Der wahre Sohn
Ende. Die letzte Dose Bier blieb ungeöffnet. Ihn betäubte das Bewusstsein, auf ganzer Linie versagt zu haben. Verzweifelt war er nicht. Er musste nur lange genug warten, dann kam irgendwann immer der Moment, an dem er den Boden erreicht hatte. Die tiefste Tiefe. Wenn er dann noch lebte, und das war bisher immer der Fall gewesen, ging es nicht mehr schlimmer, konnte er nicht noch kleiner werden, dann war er so gestaucht, dass es nur noch eine Richtung gab. Wieder nach oben.
Und tatsächlich: Am anderen Morgen machte er fünfundsiebzig Liegestütze und freute sich auf den Kaffee im Frühstückssaal. Muschter glaubte nicht mehr an ihn. Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Muschter hatte keine Ahnung, was hier in Kiew vorging. Er sah alles nur durch das Prisma seiner spröden Fragebögen. Hielt sein sachliches norddeutsches Weibchen für die einzig mögliche Variante. Muschter hatte nie eine Frau wie Svetlana erlebt, ihren rührenden Versuch, einem jüngeren Mann die Liebe zu erklären, ihm von Brüsten zu erzählen, die sie ihm nicht mehr zeigen konnte. Eine derart vom Leben ausgebrannte und dennoch glühende Frau hätte er gar nicht verstanden, er hätte vor der Leidenschaft dieses alten Körpers die Flucht ergriffen.
«Ich verstehe allmählich Ihr Verhältnis zu Arkadij», sagte Konrad zu Svetlana, zwei Stunden später. «Sie hatten ja wirklich schwierige Zeiten. Ich finde es nur merkwürdig, dass sich nach dem Krieg jede Spur von Olha verloren haben soll. Wenn ein Kindermädchen so lange in der Familie war, lädt man es doch später mal ein, man begegnet sich wieder. Wie lange war sie denn nach dem Krieg noch bei Ihnen?»
«Oh, ein Jahr bestimmt. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich es am Ende nicht übers Herz gebracht habe. Bis mein Mann zurückkam.»
«Da war Arkadij ja auch größer und brauchte kein Kindermädchen mehr.»
«Sie sagen es.»
Sie schwiegen eine Weile.
«Ist sie freiwillig gegangen?»
Svetlana atmete tief durch. «Wahrscheinlich wäre sie gern geblieben, schließlich verlor sie ihre Arbeit. Aber wir brauchten sie nicht mehr. Arkadij ging ans Institut. Und das bisschen Haushalt habe ich allein geschafft.»
«Wohin ist sie denn gegangen?»
«Weiß ich nicht.»
«Sie hat ihre Koffer gepackt und ist die Treppe runtergestiefelt, wie sie gekommen war? Und Sie wussten nicht, wohin? Ist sie in ihr Heimatdorf, oder hatte sie jemanden in Kiew?»
Konrad sah die junge Frau vor sich, als er das fragte.
«Ich bitte Sie, nach fünfzig Jahren! Möglicherweise ist sie längst tot.»
«Genau das macht mir Sorgen. Dass ich absolut nichts von ihr weiß.»
«Das ist absurd. Konzentrieren Sie sich auf Ihr Auto, statt in der Vergangenheit herumzuwühlen.»
«Woher wissen Sie, dass sie nichts mit dem Auto zu tun hat? Sie ist ein blinder Fleck. Aber gut, wenn Sie mir nichts sagen wollen. Vielleicht weiß Arkadij mehr.»
Svetlana schniefte. «Sie hat ja nicht weggewollt.»
«Was heißt das, nicht weggewollt?»
«Jurij musste sie fortschicken, musste sie regelrecht aus dem Haus jagen. Sie wollte ihren geliebten Arkadij nicht allein lassen. Er schaffte es mit einem Trick: Er lockte sie unter einem Vorwand nach draußen, setzte sie ins Auto und ist mit ihr weggefahren.»
«Wissen Sie denn nicht, wohin?»
«Er wollte es mir nie sagen. Ich weiß nicht einmal, ob sie heil dort angekommen ist. Ich war so wütend, dass ich kurz dachte … wenn er sie in einem Wald umgebracht hätte … Mein Mann besaß ja eine Waffe.»
«Das meinen Sie nicht im Ernst.»
«Sie war doch selbst schuld.»
«Also ist sie tot?»
«Nicht durch Jurij jedenfalls, er hätte ihr nichts getan. Ich weiß es nicht», schimpfte Svetlana.
«Hatten Sie später Kontakt zu ihr?»
«Mein Mann, vielleicht. Jurij war so oft auf Dienstreisen, wie hätte ich das kontrollieren sollen. Und mir war es auch herzlich egal. Ich war froh, dass endlich Ruhe im Haus war.»
«Wie hat denn der kleine Arkadij darauf reagiert?»
«Er war damals … Ihm ist das nicht so gut bekommen. Ich hab noch versucht, die Wohnungstür zuzuhalten, damit er ihr nicht nachlaufen konnte. Er rüttelte wild an der Klinke, wollte die Tür aufreißen. Ich lehnte mich dagegen. Da hat er mich gekratzt und mir in den Arm gebissen.»
«Ach, da hat er Sie gebissen?»
«Ja, ja. Er war mit seinen sechzehn Jahren viel kräftiger als ich. Allein kam ich nicht mehr gegen ihn an. Als er die Tür aufgerissen hatte und nach unten rannte, waren die beiden zum Glück schon über alle
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