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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Berge. Arkadij blieb stundenlang weg und kam erst im Dunkeln wieder nach Hause.»
    Sie umfasste ihr Teeglas mit beiden Händen.
    «Jurij kehrte erst am frühen Morgen zurück. Ich hab ihn nicht gefragt, wo er war. Als er Arkadij in diesem Zustand sah, hat er sofort den Mantel wieder angezogen und ist mit ihm in die Klinik.»
    «Was für ein Zustand?»
    «Arkadij saß am Schreibtisch, den Kopf auf der Tischplatte, mit beiden Händen hielt er sich die Ohren zu und zitterte am ganzen Leib. Seine Zähne klapperten.»
    «Und er ließ sich einfach so in die Klinik bringen?»
    «Meinem Mann hat er doch aus der Hand gefressen. Mich hat Jurij in dem Augenblick gar nicht beachtet. Meinen Arm hatte ich notdürftig verbunden, ich hatte Schmerzen, aber das interessierte ihn nicht. Nur sein kleiner Arkadij.»
    «Damals kam er zum ersten Mal in die Klinik, richtig? Dieselbe wie heute?»
    «Ja. Und als er zurückgebracht wurde, habe ich ihn gar nicht wiedererkannt. Man hatte ihm irgendwas gegeben. Er bewegte sich langsam, stierte vor sich hin. Alle Lebhaftigkeit war weg. Mein Gott, dachte ich. Das soll jetzt mein Sohn sein? Da wäre es mir lieber gewesen, er hätte mich ab und zu gebissen.»
    Konrad lächelte ungläubig.
    «Ich habe Schweinefleisch vom Markt», rief Svetlana, als wäre ihr das eben eingefallen. «Und Grünkohl. Soll ich uns was kochen?»
    Er saß am Tisch und sah zu, wie sie in der Küche herumhantierte.
    «Und Sie erzählen mir in der Zeit, was Sie heute gemacht haben.»
    Nein, nein. Diesmal fiel er nicht darauf herein.
    «Wann kam Olha denn eigentlich zu Ihnen?»
    «Als ich angefangen hatte zu arbeiten. In der Belegschaftsbibliothek einer großen Reifenfabrik, die haben Traktorenreifen produziert. Mir fiel zu Hause die Decke auf den Kopf. In der Bibliothek kam ich mit Menschen in Kontakt, ich konnte viel lesen und habe die Genossen bei ihrer Lektüre beraten. Mit meinem Einkommen konnten wir uns endlich eine Hilfe leisten.» Sie stand da, ließ die Hand mit dem Messer sinken, in der halb erhobenen Linken hielt sie ein Schweinekotelett. «Es klingelte, und Arkadij rannte zur Tür. ‹He, du!›, hat sie gerufen, ihren Koffer hingestellt und die Arme ausgebreitet, und schon in diesem ersten Moment war es, als wäre ein Funke übergesprungen. Sie haben sich auf Anhieb gemocht. Er blieb wie angewurzelt im Flur stehen, mit halb erstarrtem Lächeln. Er war verzaubert, schon bei der ersten Begegnung. Ich existierte von da ab nicht mehr für ihn. Stellen Sie sich vor, Sie sind plötzlich Luft für Ihr Kind. Mir wurde klar, dass ich keine Chance mehr hatte. Dass ich ihn verlieren würde. Und ich spürte einen Schmerz, als mir bewusst wurde, dass ich ihn noch gar nicht richtig gehabt hatte. Er sollte doch mein Kind sein. An dem Tag bekam ich zum ersten Mal schwere Migräne.»
    Ihr Gesicht wurde finster. Sie klatschte das nasse Kotelett auf das Holzbrett und versetzte ihm einige wütende Schnitte. Dann blickte sie wieder in den Flur.
    «Statt in ihre ausgebreiteten Arme zu laufen, drehte er sich abrupt um und stolzierte in sein Zimmer.»
    Ihr Blick folgte der Erinnerung, sie machte sie weicher. Jetzt lächelte sie sogar. «Im Gehen drehte er sich noch einmal um und vergewisserte sich, dass sie ihm folgte. Was sie tat. Dann verschwanden die beiden in seinem Zimmer. Als ich dazukam, saß er auf dem Fußboden und zeigte ihr sein kleines Reich.» Sie schnäuzte sich. «Er war ja wirklich süß in diesem Alter.»
    «Was hatte er denn da in seinem Zimmer? Wissen Sie das noch?»
    «Bücher. Zinn- oder Gummisoldaten der Roten Armee. Spielzeug. Eine richtige kleine Pistole aus Eisen, ein Geschenk von Jurij.»
    «Und wie sah dieses Kindermädchen aus?», fragte Konrad.
    «Sie sind gemein, oder wirklich zerstreut», sagte Svetlana. Mit einem geriffelten Holzhammer klopfte sie das Fleisch weich. «Ich habe Ihnen die Fotos doch gezeigt.» Satz für Satz wandte sie ihm das Gesicht zu. «Schmal, nicht besonders groß, knabenhafte Figur. Von hinten hätte man sie für einen Jungen halten können. Struwweliges schwarzes Haar, kurz geschnitten. Helle Haut, aber nicht blass. Man sah, dass sie viel unter dem Himmel gewesen war. Die Nase eine Spur zu groß. Ich weiß bis heute nicht, was mein Mann an ihr fand.»
    «Ihr Mann?»
    «Ja, er fand sie hübsch. Aber das will nichts heißen. Meinem Mann haben fast alle Frauen gefallen, als er jünger war. Der kleine Arkadij war blond und sie dunkel, aber die Ähnlichkeit zwischen den beiden war

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