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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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unübersehbar. Sie kam in unsere Wohnung und machte es sichtbar. Allen fiel es auf. Man sah sofort, dass beide vom Land kamen, kleinrussische Bauernkinder. Arkadijs Gesicht wurde für mich schmaler, strenger, obwohl es dasselbe blieb. Verstehen Sie, was ich meine? Ich las etwas anderes aus seinem Gesicht heraus. Etwas, das ihn nicht unbedingt liebenswerter machte. Ich hatte so viel in meinem Sohn sehen wollen. Olha kam und vergröberte ihn, seine Wangen, sein Kinn. Ich hätte von Anfang an wissen müssen, was aus ihm wird.»
    Tatsächlich, bei seiner heutigen Hagerkeit wirkte Arkadijs Kinn kräftig, beinahe stur.
    «Es war ein Schreck. Zum ersten Mal erkannte ich das Fremde in ihm. Allein durch ihre Ähnlichkeit nahm sie ihn mir weg. Sie behaupten immer, ich hätte ihn nicht geliebt. Das ist nicht wahr. Ich hätte fast vergessen, wie sehr ich ihn damals liebte. Ich versuchte lange, mich gegen die wachsende Abneigung zu wehren. Ich spürte, dass mir wieder etwas weggenommen werden sollte.»
    «Wieder?», fragte Konrad.
    «Ich meine, unmöglich gemacht. Ich nahm ihn oft in die Arme, schnupperte an seinem Haar, an seiner Haut. Er roch so gut, wissen Sie, wie die Haut eines Babys riecht? Ich wollte ihn ganz und gar für mich haben, für alle Zeit. Er war so ein süßer Junge, am liebsten hätte ich ihn aufgegessen. Dieser Sturkopf … Er wehrte sich, wand sich immer wieder aus meinen Armen und lief zu Olha. Können Sie sich vorstellen, wie weh mir das tat?»
    «Darf ich Sie etwas fragen? Sie hatten nicht vielleicht etwas gegen Olha, weil sie Ukrainerin war?»
    «Um Gottes willen, nein. Die Sowjetunion war ein Vielvölkerstaat, das heißt: Bei uns gab es nur ein Volk, das sowjetische. Alle waren gleich. Heute ist das anders. Überall nationale Zwietracht. Armenier und Aserbaidschaner, Usbeken und Kirgisen, alle bringen sich gegenseitig um. Und am meisten kriegen die Russen ab. Nein, das war es nicht. Ich habe lange versucht, Sympathie für Olha zu entwickeln. Ich dachte mir, wenn ich ihr näherkomme, wenn ich sie auf meine Seite ziehe, dann kann sich alles zum Besseren wenden.»
    «Und, hat es nicht geklappt?»
    Sie antwortete nicht.
    «Und Ihr Mann?»
    «Jurij war enttäuscht von mir. ‹Du wolltest ein Kindermädchen, jetzt hast du eins›, sagte er. Er dachte, seine Mühe wird nicht gewürdigt, aber er wollte nicht mehr über solche Dinge diskutieren. Er war müde von dem, was draußen vor sich ging.»
    «Was meinen Sie?»
    «Den Krieg, der Krieg, der kommen sollte. Alle ahnten das, auch Stalin. Aber ich wollte mir Arkadij nicht wegnehmen lassen, das ist doch verständlich, oder?»
    Das Fleisch zischelte in der Pfanne.
    «Irgendwann wurde mir klar, dass sie wegmusste. Ich wollte um Arkadij kämpfen. Am einfachsten hätten wir sie entlassen, unter einem Vorwand. Stellen Sie sich vor, in meiner Verzweiflung habe ich sogar daran gedacht, sie zu denunzieren. Mir kam der Gedanke, sie beim Rayonskomitee als Volksfeindin anzuzeigen. Als Kulakenkind, das bei uns untergeschlüpft ist. Ein Kuckucksei.»
    «Woher wussten Sie das mit den Kulaken?»
    «Wir haben doch mit ihr geredet. Sie erzählte ungern davon, aber so etwas kriegt man mit. Als sie Vertrauen zu mir gefasst hatte, rückte sie Stück für Stück damit heraus. Die Brotrequirierungskommandos hatten ihrer Familie alles weggenommen. Ihre Mutter war verhungert. Als ihr Vater wegging, war sie vierzehn. Sie hatte keine Ahnung, ob er noch lebte. Als sie alle Angehörigen verloren hatte, kam sie in die Stadt.»
    «Das hätten Sie getan?»
    «Damals hätte ich es fertiggebracht, so gehasst hab ich sie. Wenn man ein Zimmer mehr brauchte, hat man einfach die Nachbarn angezeigt, oder die Mitbewohner. Dann wurde was frei.»
    «Dabei konnte sie nichts dafür.»
    «Ja, sie tat mir auch leid. Es hat mich ja gequält. Einerseits war die Kollektivierung notwendig, darüber will ich jetzt nicht mit Ihnen diskutieren. Ich weiß, Sie sind anderer Ansicht, aber es war so, ohne Brot für die Städte, für den industriellen Aufbau wäre die Sowjetunion dem faschistischen Aggressor wehrlos ausgeliefert gewesen, und unser Land hätte nie seine heutige», sie seufzte, fast verzweifelt, «seine Größe und Bedeutung erlangt. Aber die einzelnen Menschen, besonders die Kinder, konnten ja nichts dafür. Aber dann kamen ja zum Glück die Deutschen.»
    «Zum Glück?»
    «Sie wissen schon, wie ich das meine. Drehen Sie mir nicht das Wort im Mund um. Arroganz steht Ihnen nicht.»
    Sie ging an den

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