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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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den klobigen Wasserkasten, in dem der Vater damals vielleicht seine Mauser versteckt hatte, eine massive Kette hing daran, an der man sich ohne weiteres hätte erhängen können. Der weiße Porzellangriff der Spülung lag in der Hand wie ein kalter, steifer Penis. Als sie wieder in die Küche trat, verharrte sie für einen Moment auf der Schwelle, wie um sich zu vergewissern, dass sich nichts verändert hatte. Und er sah, sie hatte sich geschminkt.
    Der Schimmer auf ihren Lippen ließ den Rest ihres Gesichts grauer wirken. Den feinen Flaum über der Oberlippe sah man nur im Gegenlicht. Sie lachte, und ein Netz von Falten spannte sich um die Mundwinkel auf.
    Svetlana kam an den Tisch, setzte sich aber nicht gleich, sondern blieb ein paar Sekunden hinter seinem Stuhl stehen, ein paar Sekunden zu lange. Er saß reglos da mit dem Gefühl, ein flauschiges Raubtier nähere sich seinem Nacken. Seit Onkel Wolfgang die Hand an seinen Hals geschlagen hatte wie auf eine aufgeplatzte Wunde, war er besonders empfindlich. Er rechnete damit, dass sie ihm gleich eine Hand auf die Schulter legen würde, spürte diese Hand schon, deutlicher, als wenn sie ihn wirklich berührt hätte; sie tat es nicht. Er roch das Neue an ihr. War es nur der frische Lippenstift? Oder die Seife, mit der sie sich die Hände gewaschen hatte? Ein dezentes Parfüm? Er kannte ein paar dieser osteuropäischen Düfte, nur deren Namen konnte er nie behalten. «Warszawianka»? «Magie noire»? Nein, es war Kölnischwasser.
    Er hatte sich die Flasche im Bad genau angesehen. Marlene hatte ihrer Tante kürzlich eine gekauft, das Etikett auf der Flasche hier war anders, ein anderer, schon vergilbter Grünton. Das Papier war an den Rändern abgeblättert, aufgeweicht, eingerissen. Die Flasche musste sehr alt sein, es war nur noch ein winziger Rest darin.
    Er durfte nicht wegrücken von diesem Leib, diesem Bauch, der nicht schlaff war, sondern geduldig hinter dem Gürtel ihres Rocks wartete. Sähe er sie einmal nackt, würde ihre Haut vermutlich in weichen, faltigen Ringen herabhängen, die von den Jahren zeugten, in denen sie mehr Gewicht gehabt hatte als heute. Gewicht im doppelten Sinne, weil dieser Bauch damals künftiges Leben in sich geborgen hatte. Jahre, in denen dieser Bauch vielleicht sogar einmal kugelrund geworden war. Er wusste das nicht. Sie erzählte ihm nicht alles. Nicht wegrücken, nein, im Gegenteil, die millimeterweise Annäherung erlauben. Er drehte seinen Kopf nicht weg, er brauchte nur leicht gegen die Anziehungskraft dieses Bauches zu halten.
    «Möchten Sie noch einen Tee?», fragte Svetlana.
    Er reichte ihr die Tasse.
    «Vielleicht kommen Sie so vom Bier weg. Drei leere Dosen habe ich in Ihrem Zimmer gefunden.»
    «Wenn Sie bei mir herumschnüffeln, ziehe ich hier aus.»
    «Aber es ist nicht gesund.»
    «Immer noch besser als Ihr Cognac.»
    «Nein, eben nicht. Bier enthält zu viele weibliche Hormone. Das macht Sie auf Dauer unmännlich.»
    Sie mussten beide lachen.
    «Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht. Sie waren so nervös. Hoffentlich erholen Sie sich ein bisschen bei mir. Ich wusste von Anfang an, dass Arkadij Sie verrückt machen würde. Sie ruhen sich jetzt erst einmal eine Zeitlang aus, dann sehen wir weiter.»
    Am Abend saßen sie auf der Couch und sahen den zuckenden Farbstreifen des alten Fernsehers Marke Raduga zu, die nach dem Einschalten minutenlang brauchten, bis sie ein Bild ergaben.
    Einmal begegnete er ihr nachts auf dem Flur und hörte am genuschelten Gutenachtwunsch, dass sie nicht mehr viele Zähne hatte. Da erschrak er, wie alt sie war.
    Konrad war im tiefsten Inneren dieser Familie angekommen. Ein abgerissener Köder, auf den Grund des Dnjepr gesunken. Niemand erwartete mehr von ihm, dass er das Auto fand. Vielleicht einzig und allein der Muschter, der in seinen Gedanken hin und wieder noch aufflackerte. Sie hatten ihn abgeschrieben, das war klar. Mit gesundem Menschenverstand betrachtet, musste ihnen sein Verhalten absurd erscheinen. Er konnte ihnen nichts erklären. Seine Stärke musste sich jetzt darin beweisen, dass er in dieser albtraumhaften, nicht zuletzt für ihn selbst beschämenden Situation einen kühlen Kopf bewahrte und sein Ziel nicht aus den Augen verlor.
    Eines Tages, wenn er triumphierend, oder auch einfach nur lebend, nach Deutschland zurückkäme, würde er mit Muschter in eine Kneipe am Rhein gehen und ihm bei einem Kölsch die ganze Geschichte erklären. Aber als er sich Muschters erleichtertes

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