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Der wahre Sohn

Der wahre Sohn

Titel: Der wahre Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olaf Kühl
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Lächeln vorstellen wollte, sah er nur noch eine schwarze Fläche.

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    Neun
    Nachdem er während des Wochenendes in der düsteren Wohnung am Lemberger Platz immer trübsinniger wurde, war es am Montag jetzt fast eine Erlösung, zu Arkadij zu fahren. Hinaus ans Sonnenlicht.
    Der Patient lebte bei seinem Besuch auf. Er war geradezu ungehalten, weil Konrad später kam als bisher.
    «Entschuldigen Sie», sagte Konrad. «Svetlana wollte mir unbedingt noch die Werkzeuge in Ihrem Zimmer zeigen. Diesen Pantographen. Erinnern Sie sich? Sie konnte mir nicht richtig erklären, was Sie damit angestellt haben. Vielleicht tut sie auch nur so. Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie damit gemacht haben?»
    «Interessiert Sie das denn?» Er schien sich aufrichtig zu freuen. «Setzen Sie sich erst mal. Also, wozu Landkarten im Allgemeinen dienen, wissen Sie, ja?»
    Konrad nickte lächelnd.
    «Man kann damit Orte finden.»
    «Aber warum haben Sie die Karten übereinandergelegt?»
    «Um auf einen Blick zu sehen, welcher Ort fehlt.»
    «Aber warum soll einer fehlen?»
    «Weil ich … weil keine Karte der Welt vollständig ist. Auf jeder fehlt irgendetwas. Wenn man nur eine Karte hat, verfügt man nur über eine Ansicht der Welt und kann gar nicht feststellen, was fehlt. Weil es ja nicht da ist. Gucken Sie mal aus dem Fenster und sagen mir, was dort fehlt.»
    «Mir ist schon klar, wie Sie es meinen. Aber was draußen fehlt, das sind vielleicht wir: Es ist so schön heute, lassen Sie uns doch einen Spaziergang machen», schlug Konrad vor. Dr. Prokoptschuk entließ sie aus der geschlossenen Station, sie gingen in den Park.
    «Ich habe viel Zeit verloren, weil ich nicht wusste, wo ich suchen sollte», sagte Arkadij.
    «Aber was Sie suchten, wussten Sie schon?»
    Er blickte ihn erstaunt an. «Natürlich. Was denken Sie?»
    «Olha?»
    «Genau.»
    «So weit kann ich folgen. Aber warum muss es ein Ort sein, der nicht eingezeichnet ist?»
    «Weil ich ihn sonst längst gefunden hätte.»
    «Verstehe ich nicht.»
    «Olha hat mir einmal gesagt, woher sie kam. Der Name ist mir entfallen, das heißt, ich habe ihn irgendwo im Kopf, aber er will nicht raus. Professor Guzman sagt, ich habe diesen Namen aus einem bestimmten Grund vergessen, und mit dem Grund würde mir auch der Name wieder einfallen. Aber ich weiß beides bis heute nicht. Also habe ich mir alle Ortsnamen nördlich von Kiew herausgeschrieben, habe sie wie auf einer Kette aufgefädelt und bin sie mit dem Finger auf der Karte abgefahren. Ich hab sie alphabetisch geordnet, der Länge nach, nach Ähnlichkeit. Aber den einen Namen habe ich nie gefunden. Deshalb muss es ein Dorf sein, das nicht auf der Landkarte steht. Das Zimmer des Golem.»
    «Gibt es denn solche Orte, die nicht auf der Karte stehen?»
    «Sicher. Allein die militärisch bedeutsamen Punkte, die auf den meisten Karten weggelassen werden. Und dann sind im Laufe des letzten Jahrhunderts viele Orte vom Erdboden verschwunden. Dörfer, die im Krieg von den Deutschen ausgelöscht wurden. Sobald sie irgendwo Partisanen vermuteten, haben sie Geiseln erschossen und das ganze Dorf niedergebrannt. Oder kleine Flecken, in denen in den dreißiger Jahren die meisten Einwohner verhungert sind, und die anderen sind weggegangen. Ich bin in Dörfern gewesen, die nur noch anhand grasüberwucherter Grundmauern zu erkennen waren.»
    «Ich verstehe allmählich.»
    «In der Theorie hört sich das alles einfach an. Aber dazu kamen die objektiven Schwierigkeiten. Wissen Sie, was das ist? So hieß das im historischen Materialismus. Wenn draußen der Trolleybus vorbeiruckelte oder ein Laster über das Kopfsteinpflaster fuhr, erbebte das alte Haus in seinen Fundamenten. In unserem Wohnzimmer klirrten die Gläser im Schrank. Der Tisch mit dem Diaprojektor zitterte, und das Bild verrutschte. So kam ich zu falschen Schlüssen. Ich bildete mir ein, da stimme etwas nicht überein, ich hätte etwas Fehlendes entdeckt. In der Nachbarwohnung, hinter der dünnen Pappmachéwand, hörte ich die Stimme von Jaroslaw, der ständig betrunken war.»
    «Hat Svetlana denn gewusst, wonach Sie suchten?»
    «Nein. Aber einen Menschen, der so viel zu verbergen hat wie sie, macht jede Suche nervös. Sie hat mich wahnsinnig gemacht, hat nie angeklopft, hat meinen Zimmerschlüssel versteckt, damit ich nicht abschließen konnte. Sie platzte immer ins Zimmer und tat, als hätte sie etwas verlegt, ‹ach, Entschuldigung, Arkadij, hab ganz vergessen …›. Ich

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