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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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erfindest du bloß. Sonst würde ja niemand freiwillig hier wohnen.«
    »Aber es ist die Wahrheit. Meistens ist er ganz friedlich, doch er hat auch schon Hunde und Kälber getötet. Bei Sonnenuntergang kann man ihn fliegen sehen. Er spuckt Feuer. Wenn man ihn anschaut, kriegt man richtig Angst.«
    »Und wo fliegt er hin?«
    »Immer an dieselbe Stelle. Zum Drachenfeld. Also halten wir uns eben von dort fern.«
    Er drehte sich um und versetzte mit seinem Stecken einer Kuh einen Klaps. Die beiden Jungen marschierten weiter. Eine Weile sprachen sie kein Wort.
    »Ich glaube, er lügt«, sagte Willie.
    »Vielleicht.«
    Möglicherweise lag es daran, dass sie sich auf dem Rückweg befanden, jedenfalls erschien ihnen der Marsch zum Gipfel von Shirley Common nun nicht mehr so weit. Die Nachmittagssonne würde zwar noch lange nicht untergehen, doch es war ein frischer Hauch in der Aprilbrise. Im Westen schimmerte der Himmel leicht orangefarben. Vor ihnen erstreckten sich wieder das Tal und der Burley Beacon.
    »Von hier aus hätten wir eine gute Aussicht«, meinte Jonathan.
    »Dann kommen wir aber zu spät nach Hause«, wandte Willie ein.
    »Das hängt davon ab, wann der Drache erscheint. Vielleicht lässt er sich ja gleich blicken.«
    Willie antwortete nicht.
    Jonathan wusste, dass sein Freund keine große Lust auf diesen Ausflug gehabt hatte und nur aus Gefälligkeit mitgekommen war. Allerdings bedeutete das nicht, dass er ein Feigling war – er hatte nicht mehr Angst als Jonathan selbst. Wenn sie zusammen spielten, vor allem am Fluss oder sonst irgendwo am Wasser, war Willie der größte Draufgänger, während Jonathan eher zur Vorsicht neigte. Jonathan wusste, dass er sich allein niemals hierher gewagt hätte. Doch im Laufe des Tages hatte er eine neue Entdeckung gemacht: Er verfügte über eine ruhige, beharrliche Entschlossenheit, die sich sehr von der unbekümmerten Art seines Freundes unterschied.
    »Wenn wir zu spät zurückkommen«, sagte Willie, »setzt es Hiebe.«
    Selbst in den Dörfern wurde die Sperrstunde, wenn die Feuer für die Nacht gelöscht wurden und alle Männer zu Hause sein mussten, mehr oder weniger eingehalten. Schließlich konnte man in der Dunkelheit auf dem Land ohnehin nicht viel mehr unternehmen als zu wildern oder sonst etwas Verbotenes zu tun. In Lymington gingen höchstens Männer wie Totton nachts vom Angel Inn nach Hause, doch für gewöhnlich waren die Straßen leer. Sobald die Nachtglocke den Beginn der Sperrstunde verkündete, herrschte Ruhe.
    Jonathan hatte noch nie Prügel bekommen. In jener Zeit mussten die meisten Jungen in England hin und wieder eine Abreibung von ihren Eltern oder vom Schulmeister einstecken, doch wegen seiner stillen Art und vielleicht auch, weil durch die Krankheit seiner Mutter im Haus stets eine gedämpfte Stimmung herrschte, war Jonathan diese Strafe bis jetzt erspart geblieben. »Das ist mir egal«, erwiderte er. »Du kannst ja umkehren, wenn du willst, Willie.«
    »Soll ich dich etwa alleine lassen?«
    »Es ist schon gut. Geh nur. Dann schaffst du es noch pünktlich.«
    Willie seufzte. »Nein. Ich bleibe.«
    Jonathan stellte zum ersten Mal fest, dass er auch skrupellos sein konnte, und lächelte seinem Freund zu.
    »Und wenn der Drache nicht mehr kommt, Jonathan?«
    »Dann sehen wir eben keinen.«
    Aber was war, falls es doch einen gab? Sie warteten eine Stunde lang. Inzwischen ging die Sonne über dem Tal unter. Aus den fernen Auwiesen erhob sich ein zarter Dunst. Die Heide im Norden leuchtete orangebraun. Aber Burley Beacon strahlte so golden im Sonnenlicht, dass man meinte, die Felsen würden jeden Moment in Flammen aufgehen.
    »Behalt Burley Beacon im Auge, Willie«, sagte Jonathan und rannte den Hügel hinab.
    Zum Rand des Feldes waren es nur zweihundert Meter. Aus irgendeinem Grund hatte man hier den Farn geschnitten und an den Hecken zu Haufen zusammengerecht. Also war es ein Kinderspiel, eine kleine Hütte zu bauen und sie mit Farnwedeln auszupolstern. Wenn Tiere auf Farn schliefen, musste es auch für Menschen möglich sein, dachte Jonathan. Als er fertig war, lief er wieder zu Willie.
    »Heute schaffen wir es nicht mehr zurück. Es ist zu spät.«
    »Das habe ich mir fast gedacht.«
    »Ich habe uns eine Hütte gebaut.«
    »Gut.«
    »Hast du was gesehen?«
    »Nein.«
    Die Sonne ging unter, und Burley Beacon war in ein feuriges Rot getaucht. Immer tiefer sank die Sonne, im Westen verfärbte sich der Himmel purpurrot, am Burley Beacon wurde es dunkel.

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