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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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sich, und ganz Lymington war neugierig. Doch als die Bürger erfuhren, dass sie sich die Nacht um die Ohren geschlagen und sich Sorgen gemacht hatten, nur weil zwei Jungen einen Drachen hatten sehen wollen, waren sie ziemlich aufgebracht.
    Wenigstens behaupteten sie das. Die Frauen forderten, die Jungen ordentlich zu züchtigen. Die Männer, die sich an ihre eigene Kindheit erinnerten, stimmten zwar zunächst zu, waren aber eigentlich bereit, ein Auge zuzudrücken. Der Bürgermeister teilte den beiden Vätern streng mit, dass er die Prügelstrafe höchstpersönlich vollstrecken würde, wenn sie ihren Söhnen keine angemessene Abreibung verabreichten. Und da die Leute insgeheim Burrard und seinem albernen Märchen von dem Drachen die Schuld gaben, ließ dieser sich lieber nicht blicken.
    Bevor Henry Totton seinen Sohn abstrafte, hielt er ihm einen Vortrag darüber, wie gefährlich es sei, sich mit Willie Seagull und seinesgleichen herumzutreiben. Offenbar habe Willie ihn angestiftet. Zu seinem Erstaunen versicherte ihm Jonathan jedoch, das ganze Abenteuer sei seine Idee gewesen. Er habe Willie überredet, die Nacht über fortzubleiben. Zuerst traute Henry Totton seinen Ohren nicht. Und als er es schließlich glauben musste, war er traurig und bitter enttäuscht. Diesmal aber war es Jonathan herzlich gleichgültig.
    Alan Seagull schleifte seinen Sohn am Ohr den Kai entlang in seine sonderbare Behausung. Dann nahm er den Riemen von der Wand und schlug Willie zweimal, worauf er so zu lachen anfing, dass seine Frau die Sache für ihn zu Ende bringen musste.
    Jonathans Bestrafung jedoch war eine ernstere Angelegenheit, bei der niemand lachte. Henry Totton tat das, was er für seine Pflicht hielt. Dabei war er nicht nur erstaunt über den ganzen Zwischenfall, sondern befürchtete außerdem, sein Sohn, der ihm so fremd war, könnte ihn danach hassen. Die Prügel taten zwar weh, doch Jonathan war ziemlich stolz auf sich. Und deshalb schmerzte die Züchtigung den armen Vater vermutlich mehr als den kleinen Übeltäter.
    Er ist alles, was ich habe, dachte Totton. Und nun habe ich ihn verloren. Wegen eines Drachens. Und da der bedauernswerte Mann so wenig von der Seele eines Kindes verstand, war er völlig ratlos, was er nun mit Jonathan anfangen sollte.
     
     
    Henry Totton fiel aus allen Wolken, als sein Sohn ihn am nächsten Tag fröhlich fragte: »Nimmst du mich zu den Salzgärten mit, wenn du wieder hingehst?«
    Da der Vater diese Gelegenheit für eine Versöhnung nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte, beschloss er, noch am selben Nachmittag dorthin aufzubrechen.
    Die ungewöhnliche Wärme der letzten Tage war von typischem Aprilwetter abgelöst worden. Kleine weiße und graue Wolken zogen über den blassblauen Himmel. Es wehte ein feuchter Wind, und hin und wieder schauerte es leicht, als Henry Totton und Jonathan zur Kirche oben an der High Street gingen, nach links abbogen und den langen, abschüssigen Weg nahmen, der hinunter zum Meer führte.
    Der Küstenstreifen unterhalb der Stadt war kahl und windumtost: eine grüne, von buschigem Moorgras bewachsene Einöde. Salziger Dunst umhüllte Ginsterbüsche und kleine dornige Bäume, die der Meerwind in ihrem Wachstum verlangsamt und verbogen hatte. Man hätte meinen können, dass nur Möwen, Brachvögel und Wildenten diesen unwirtlichen Landstrich bewohnten. Doch die Ansammlung von kleinen Häusern und die etwa zwanzig kleinen windmühlenähnlichen Gebäude mit ihren im Augenblick reglos verharrenden Flügeln straften diese Annahme Lügen: Hier in den Marschen wurde die wichtigste Handelsware der Kaufleute von Lymington hergestellt – Salz.
    Henry Totton besaß einen Salzgarten in Pennington Seagulls. Das Siedehaus und die Pumpen waren deutlich zu erkennen, als er mit seinem Sohn den Kiespfad entlang über die Ebene ging, und bald hatten sie die Gebäude erreicht.
    Jonathan gefiel es in den Salzgärten, vielleicht deshalb, weil sie sich so nah am Meer befanden. Zur Gewinnung von Salz benötigte man zu allererst einen großen Teich nah an der Küste, der sich bei Flut mit Meerwasser füllte. Gerne beobachtete Jonathan, wie das Wasser die gewundenen Priele entlanggurgelte.
    Die dahinter liegenden Salzpfannen waren ein Meisterwerk. Eigentlich handelte es sich nur um ein gewaltiges, flaches Becken mit ebenem Boden, das in etwa sechs Quadratmeter große Stücke eingeteilt war. Die Wälle dazwischen hatten eine Höhe von zwei Zentimetern und waren gerade so breit, dass man

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