Der Wald der Könige
ausgerottet worden waren. Natürlich liefen im Herbst, zur Mastzeit, Hausschweine im New Forest herum. Und hin und wieder verwilderte eines und wurde mit einem Wildschwein verwechselt. Doch ein wirkliches Wildschwein mit seinen grau melierten Borsten, dem massigen Körper und den blitzenden Stoßzähnen stellte ein Furcht erregendes Geschöpf dar. Selbst die tapfersten Adeligen, mochten sie nun Plantagenets oder Normannen sein, empfanden trotz ihrer Hunde und ihres Jagdgefolges Furcht, wenn sich eines dieser wilden Tiere wie rasend aus dem Gebüsch auf sie stürzte. Allerdings versprach die Jagd auf Wildschweine auch die größte Aufregung. In ganz Europa galt die Wildschweinjagd als der edelste Zeitvertreib für die Aristokratie, gleich nach dem Zweikampf im Turnier. Bei jedem großen Festmahl diente ein Wildschweinkopf als Tischdekoration.
Doch dem Inselkönigreich England fehlten trotz der zahlreichen Wälder die unbesiedelten Weiten, wie es sie in Frankreich oder Deutschland gab. Und deshalb wurde jedes Wildschwein sofort von den Adeligen aufgestöbert und gejagt. Vier Jahrhunderte nach dem Eintreffen des normannischen Eroberers existierten im Süden von England nur noch wenige Wildschweine. Doch hin und wieder stieß man auf eines, das aus irgendeinem Grund von den Jägern verschont geblieben war. Im Laufe der Jahre konnte so ein Einzelgänger eine gewaltige Größe erreichen.
Und genau das war vermutlich im Avontal um das Jahr 1460 herum geschehen.
Der Herrensitz Bisterne lag in einer malerischen Umgebung auf dem Grund des Tals, und zwar auf der Waldseite des Avon, ein wenig nördlich von Tyrrells Furt. Zur Zeit der Angelsachsen hatte man das Gut Bede’s Thorn genannt, und dieser Name war über die Jahre hinweg zu Bisterne verändert worden. Nach der Eroberung Englands durch die Normannen war der Herrensitz in angelsächsischem Besitz geblieben und durch Erbschaft an die adelige Familie Berkeley übergegangen, die aus der westlichen Grafschaft Gloucestershire stammte. Sir Maurice Berkeley – seine Gattin war übrigens die Nichte keines Geringeren als des mächtigen Königsmachers Warwick – hielt sich in der Zeit kurz vor dem Rosenkrieg gern in Bisterne auf, um mit seinen Hunden im Avontal zu jagen.
Offenbar hatte das Wildschwein seinen Bau irgendwo auf dem Burley Beacon, der das Tal überblickte, und es hieß, dass es die Bauernhöfe in der Umgebung plünderte. Kurz vor dem Martinstag, wenn das Vieh geschlachtet wurde, war das Wildschwein den Bächen gefolgt, die vom Castle Hill herunterflossen, und so nach Bisterne gekommen. Irgendwann erschien es am Bunny By Brook, einem Bach unweit des Gutshauses, wo es die Milchkannen entdeckte, die zum Kühlen im Wasser standen. Das Wildschwein vertilgte nicht nur die Milch, sondern tötete auch noch eine der wenigen Kühe, die der Bauer besaß.
Also war es nicht weiter verwunderlich, dass der tapfere Sir Maurice Berkeley in einer kalten Novembernacht loszog, um das Untier zu bekämpfen. Die blutige Schlacht fand im Tal statt. Der Keiler gab markdurchdringende Schreie von sich und wirkte im fahlen Mondlicht wie ein Gespenst. Zwei der Lieblingshunde des Ritters kamen bei dem Gemetzel ums Leben. Sir Maurice gelang es zwar, das Ungeheuer zu töten, doch er trug dabei einige Wunden davon, die sich entzündeten. Er erlebte das Weihnachtsfest nicht mehr.
Einige Legenden geraten erst viele Jahre nach einem fast vergessenen Ereignis in Umlauf. Andere hingegen entstehen auf der Stelle. Schon ein Jahr später wusste die ganze Grafschaft von Sir Maurice Berkeleys Kampf mit dem Drachen von Bisterne. Man hatte den Drachen von Burley Beacon aus über die Felder fliegen sehen. Und alle waren darüber im Bilde, dass der Ritter das Ungetüm mit einem Streich getötet hatte, anschließend aber dessen Gift erlegen war. Auch wenn der Rest der Welt von den ritterlichen Dramen um die Rosenkriege erschüttert wurde, im New Forest und im Avontal sprachen die Leute noch jahrelang nur über eines: »Bei uns gab es vor nicht allzu langer Zeit einen Drachen.«
Vom Gipfel des Shirley Common nach Bisterne waren es noch einmal drei Kilometer. Die Jungen ließen sich beim Abstieg Zeit. Hin und wieder konnten sie einen Blick auf die Felsspitze von Burley Beacon erhaschen. Und sie hielten die ganze Zeit Ausschau in diese Richtung, für den Fall, dass sich der Drache vom Gipfel erhob und mit ausgebreiteten Schwingen auf sie zufliegen sollte.
»Was machen wir, wenn er kommt?«, fragte
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