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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Jonathan den gewaltigen Solent sehen, der sich fast dreißig Kilometer weit erstreckte und der ihn an eine riesige graue Röhre erinnerte. Im Westen, jenseits der Sümpfe und Keyhavens, ragte eine lange, aus Sand und Kies bestehende Landzunge etwa anderthalb Kilometer weit ins Wasser und zeigte auf die Kreidefelsen der Insel. Durch die schmale Lücke dazwischen erkannte Jonathan das offene Meer. Gischt sprühte ihm ins Gesicht. Er war überglücklich.
    Da der Wind von hinten blies, brauchten sie einfach nur mit ihm zu segeln. Der Rückweg hingegen würde schwieriger werden. Das Boot verfügte zwar über ein großes, in der Mitte angebrachtes Steuerruder, aber das primitive viereckige Segel eignete sich nicht sonderlich für das Kreuzen gegen den Wind. Vielleicht würden sie sogar rudern müssen. Jonathan vermutete, dass das für das kleinere Boot von Vorteil sein würde. Und dieser Vorteil schien unentbehrlich, denn das schwerere Schiff aus Southampton näherte sich zusehends. Gewiss würde es sie überholen, noch ehe sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten.
    Zufrieden blickte Jonathan sich zu Willie um. Die beiden Jungen hatten sich inzwischen einen Platz unterhalb der kleinen Brücke gesucht, auf der Seagull stand. Doch während Jonathan gebannt das Meer betrachtete, saß Willie nur kopfschüttelnd da und runzelte finster die Stirn.
    Jonathan rutschte zu ihm hinüber. »Was ist los?«, fragte er.
    Zuerst antwortete Willie nicht, dann senkte er den Kopf und murmelte: »Ich begreife es nicht.«
    »Was?«
    »Warum mein Vater nicht das große Segel gesetzt hat.«
    »Welches große Segel?«
    »Das Segel, das da drin ist.« Willie wies mit dem Kopf auf einen Hohlraum unter dem Achterdeck. »Er hat ein großes Segel. Deshalb ist er ja schneller als die meisten Boote.« Mit dem Daumen deutete er auf das Schiff aus Southampton, das immer näher kam. »Bei diesem Rückenwind würden die uns sonst nämlich nie kriegen.«
    »Vielleicht setzt er es noch.«
    Willie schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht. Und dabei hat er fünf Pfund auf das Rennen gewettet. Ich weiß nicht, was er vorhat.«
    Jonathan betrachtete das kleine, kinnlose Gesicht seines Freundes, das dem seines Vaters glich wie ein Ei dem anderen. Beim Anblick seiner finsteren Miene wurde ihm plötzlich klar, dass der komische kleine Junge, der mit ihm durch den Wald lief und am Fluss spielte, in vieler Hinsicht erwachsener war als er. Im Gegensatz zu wohlhabenden Kaufmannssöhnen halfen die Kinder der Bauern und Fischer ihren Vätern und Müttern bei der Arbeit. Sie trugen Verantwortung und wurden von ihren Eltern mehr oder weniger gleichberechtigt behandelt.
    »Sicher weiß er, was er tut«, sagte Jonathan jetzt zu seinem Freund.
    »Und warum hat er es mir dann nicht erzählt?«
    »Mein Vater erzählt mir nie etwas«, erwiderte Jonathan, und auf einmal dämmerte ihm, dass das nicht stimmte. Sein Vater versuchte ständig, ihm etwas zu erklären, aber er, Jonathan, hörte nicht richtig zu.
    »Er vertraut mir nicht«, sagte Willie bedrückt. »Er weiß, dass ich dir sein Geheimnis verraten habe.« Er sah Jonathan an. »Du hast es doch niemandem weitergegeben, oder?«
    »Nein«, erwiderte Jonathan, was beinahe die Wahrheit war.
    Sie hatten die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als das Schiff aus Southampton sie überholte. Jonathan hörte das Johlen der anderen Mannschaft, doch Seagull und seine Leute achteten nicht darauf. Während sie weiter auf Yarmouth zuhielten, war ihnen das andere Schiff etwa einen knappen Kilometer voraus.
    Der Hafen von Yarmouth war kleiner als der von Lymington. Er wurde durch eine Sandbank, die gleichzeitig als Hafenmauer diente, vor den Strömungen des Solent geschützt. Sie waren immer noch etwa anderthalb Kilometer von der Hafeneinfahrt entfernt, als Jonathan etwas Seltsames bemerkte: Das Segel hing schlaff herab.
    Seagull brüllte ein paar Befehle, worauf zwei der Männer eilig eines der Segel lockerten, während zwei weitere das andere festzurrten, sodass sich der Neigungswinkel änderte. Seagull beugte sich über das Steuer.
    »Der Wind dreht!«, rief Willie. »Nord-Ost.«
    »So wird die Rückfahrt leichter«, meinte Jonathan.
    »Vielleicht.«
    Auf dem Boot aus Southampton hatte man sich für dieselbe Vorgehensweise entschieden, doch man war im Vorteil, da man sich bereits näher an der Hafeneinfahrt befand. Bald sahen Jonathan und Willie, dass die Gegner wendeten und auf die schmale Rinne an der Sandbank zuhielten.

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