Der Wald der Könige
ein rauer Wind ins Gesicht. Die schaumgekrönten Wellen wurden allmählich zu riesigen Brechern, doch da das Boot nun höher auf dem Wasser lag, schaukelte es darüber hinweg. Inzwischen saßen alle zehn Matrosen, samt und sonders erfahrene Männer, an den Rudern. Seagull plante, so weit wie möglich vom Ufer wegzurudern, das Boot ein wenig gegen den Wind zu richten, ein kleines Segel zu setzen und dann – unter Einsatz von Segel, Steuerruder und Ruder – so nah es ging an die Flussmündung von Lymington heranzukommen. Da Lymington genau gegenüber lag, würden sie gewiss zu weit nach Westen abgetrieben werden. Aber wenigstens würden sie auf diese Weise verhältnismäßig gefahrlos die Untiefen über den Sümpfen überwinden. In den dortigen flachen Gewässern konnten sie dann die Küste entlangrudern, das Schiff in den Salzmarschen an Land setzen und sich wohlbehalten zu Fuß auf den Heimweg machen. Eines stand fest: Der Sieg des Rennens war völlig offen; das Wichtigste war, heil nach Hause zu kommen.
Der Wind wurde zwar stärker, wehte aber immer noch in Böen. Mit Hilfe des Steuerruders gelang es Seagull, den Bug des Bootes grob in nordöstlicher Richtung zu halten, wo Beaulieu lag. Währenddessen plagten sich seine Männer mit den langen Rudern ab. Etwa ein Dutzend Ruderschläge lang spürte Seagull den Wind im Gesicht, und das Boot machte verhältnismäßig gute Fahrt. Dann wieder wurden sie von einer Böe ergriffen, die das Schiff ins Schwanken brachte, den Bug herumwarf und ihnen einen Schwall Gischt ins Gesicht schleuderte. Fast blind zerrte Seagull am Steuerruder, um das Boot wieder zu wenden. Im Osten konnte er über dem Solent einen bräunlichen Regenschleier erkennen. Er rechnete nach, wie weit sie kommen könnten, bis der Regen einsetzte. Vielleicht bis zur Hälfe ihres Weges.
Es ging sehr langsam voran: hundert Meter, dann noch einmal hundert. Als sie etwa einen halben Kilometer hinter sich gebracht hatten, sahen sie das Schiff aus Southampton hinter sich auftauchen.
Das größere Boot nahm einen anderen Kurs. Es stellte den Bug direkt gegen den Wind, hielt sich näher an der Küste, und die Mannschaft begann, aus Leibeskräften nach Osten zu rudern. Offenbar beabsichtigten sie, ein größtmögliches Stück die Küste entlangzufahren, bevor der Wind zulegte, und dann die gesamte Strecke über den Solent mit Hilfe des Segels zu bewältigen. Den Wind halb im Rücken, wollten sie geradewegs auf den Hafen von Lymington zusegeln. Offenbar rechnete der Kapitän aus Southampton damit, dass Seagull zu weit nach Westen abgetrieben würde, sodass es ihm wegen des schlechten Wetters nicht mehr gelang umzukehren. Möglicherweise hatte er Recht.
»Segel setzen!«, rief Alan Seagull.
Zunächst schien sein Plan aufzugehen. Mit einem möglichst kleinen Segel wollte er den Wind ausnützen und mit Hilfe der Ruder das östliche Ende der Flussmündung von Lymington ansteuern. Immer wieder ergriff eine Sturmböe das Segel, sodass das Schiff ins Schlingern geriet und die Ruderer aus dem Takt kamen. Doch sie ließen nicht locker. Auch die Gischt wurde stärker. Aber ein gelegentlicher Blick zurück zur Insel sagte Seagull, dass sie gute Fahrt machten. Er sah das Boot aus Southampton, etwa in anderthalb Kilometer Abstand und parallel zur Hafeneinfahrt, stetig die Küste entlanggleiten. Seagull betrachtete die Wolken. Der Regen näherte sich rascher als erwartet.
»Ruder einziehen!« Überrascht befolgten die Männer den Befehl. Willie blickte seinen Vater fragend an. Doch an Stelle einer Antwort schüttelte dieser nur den Kopf. »Mehr Segel!«, rief er. Die Matrosen gehorchten. Das Schiff machte einen Satz. »Alle Mann nach Steuerbord.« Sie mussten das Gewicht nach vorne verlagern, um den Schwung des Segels auszugleichen. »Also los«, murmelte Seagull bei sich.
Die Wirkung war erstaunlich. Das Schiff erschauderte knirschend und schoss vorwärts. Inzwischen kam der Sturm so schnell näher, dass sie keine andere Wahl hatten, als die Überfahrt so rasch wie möglich hinter sich zu bringen, bevor er richtig losschlug. Über den schwankenden Bug hinweg betrachtete Seagull das nördliche Ufer. Natürlich würde er nach Westen abgetrieben werden, die Frage war nur, wie weit? Seagull bemühte sich, das sich aufbäumende Schiff auf Kurs zu halten, und lenkte sein Gefährt mitten hinaus auf den Solent.
Und dann kam der Sturm, angekündigt von einem Tosen und einem heftigen Regenguss. Es wurde stockfinster, und es schien,
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