Der Wald der Könige
Matrosen besetzten die Ruder, die jedoch nur dazu dienten, das Schiff in der Mitte des Stroms zu halten. Die Übrigen schickten sich an, Segel zu setzen. Seagull stand am Steuer. Die beiden Jungen hatten sich vor ihn auf den Boden gekauert. Als Jonathan das Gesicht des Seemanns und seinen schwarzen Bart betrachtete, der sich vom Himmel abhob, kam er ihm für einen Moment seltsam bedrohlich vor. Doch er tat diesen Gedanken als albern ab. Offenbar hatte der Bürgermeister am Ufer die Flagge geschwenkt, denn Seagull nickte und sagte: »Los.« Die Jungen sahen zu, wie das viereckige Segel mit einem Rauschen gehisst wurde. Die vier Männer an den Rudern legten sich in die Riemen, und bald segelten sie, angetrieben vom Nordwind, den Strom entlang.
Als Jonathan zum Kai zurückblickte, sah er, dass sein Vater sie beobachtete. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte ihm zugewinkt, aber er tat es nicht, denn er befürchtete, ihn damit zu verärgern. Bald wurde die Stadt auf ihrem Hügel immer kleiner. Kurz brach ein Sonnenstrahl durch die Wolken und tauchte die Dächer in ein unheimliches Licht. Dann schloss sich die Wolkendecke wieder, und es wurde grau. Sie segelten rasch flussabwärts. Nach einer Weile versperrten die Bäume am Ufer die Sicht auf die Stadt.
Da das kleinere Schiff rascher an Geschwindigkeit zulegte, hatten sie im Moment einen Vorsprung vor dem Boot aus Southampton. Sie machten weiter Fahrt. Zu ihrer Rechten lagen die baumlosen Weiten des Pennington Marschlands; links befand sich ein schmaler Streifen Sumpfland. Vor ihnen, jenseits einer breiten Sandbank, die durch die Flut nun völlig überschwemmt war, flossen die unruhigen Wasser des Solent.
Für Seeleute boten die Häfen am Solent einen bedeutenden Vorteil, auch wenn die Einfahrt in den Fluss von Lymington auf den ersten Blick recht schwierig wirken mochte. An der Flussmündung unterhalb von Beaulieu im Osten bis zu den Pennington Marschlands im Westen erstreckten sich gewaltige Moore, durch die verschiedene Bäche sich einen schmalen Weg gegraben hatten. Auf dem fruchtbaren Boden gediehen Schilf, Wasserpflanzen und unzählige Weichtiere, Schnecken und Würmer, die den verschiedensten Vogelarten als Nahrung dienten. Einige der Schreitvögel, Enten, Gänse, Kormorane, Reiher, Seeadler und Möwen, blieben das ganze Jahr über, andere zogen im Winter fort. Ein Paradies für Vögel also, allerdings auf den ersten Blick nicht für Seeleute. Dennoch bot die Landschaft Schiffen zwei bedeutende Pluspunkte. Der erste lag auf der Hand, denn das dreißig Kilometer breite Gewässer wurde durch das Massiv der Insel Wight geschützt, von deren östlichem und westlichem Ende aus man Zufahrt zum offenen Meer hatte. Doch noch wichtiger als die geschützte Lage waren die Gezeiten.
Der Tidenhub am Ärmelkanal lässt sich mit einer Wippe vergleichen, die sich über einen Angelpunkt hinweg hebt und senkt. An den jeweiligen Enden besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen Ebbe und Flut, in der Mitte schwappt zwar viel Wasser hin und her, der Meeresspiegel bleibt jedoch verhältnismäßig konstant. Da sich der Solent unweit dieses Angelpunktes befindet, machen sich die Gezeiten hier kaum bemerkbar. Außerdem hat die natürliche Barriere, die die Insel Wight bildet, noch einen weiteren Vorteil. Denn bei Ebbe oder Flut im Ärmelkanal wird der Solent von zwei Seiten her gefüllt, was dort wiederum zu einem ganz eigenen Ablauf der Gezeiten führt. Am westlichen Solent, wo Lymington liegt, kommt es für gewöhnlich zu einer sanften Flut, die etwa sieben Stunden lang ansteigt. Der hohe Wasserstand hält sich lange, zuweilen finden sogar zwei Fluten im Abstand von wenigen Stunden statt. Darauf folgt eine kurze, rasche Ebbe, die in der Meerenge am westlichen Ende der Insel Wight eine tiefe Rinne hinterlässt. Diese eignet sich vorzüglich für die Zufahrt von Schiffen in den großen Hafen von Southampton.
Doch auch das bescheidene Lymington war kein Stiefkind der Natur. Bei Hochwasser wurden die Sümpfe überflutet. Der kleine Kanal war gut zu sehen und tief genug für die Kiele der damals üblichen Handelsschiffe.
Als sie den Solent erreichten, schaukelte das Schiff in den vom Wind aufgewühlten Wellen. Doch da der Seegang nicht sehr schwer war, hatte Jonathan seine Freude daran. Vor ihnen, nur sechs Kilometer entfernt, erhoben sich die ausladenden Hügel der Insel Wight. Ihr Ziel, der kleine Hafen von Yarmouth, befand sich fast unmittelbar gegenüber. Im Osten konnte
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