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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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als würde das verheerende Unwetter alles niederwalzen und verschlingen, was sich ihm in den Weg stellte. Die Insel und die Wolken am Himmel waren nicht mehr zu sehen. Um sie herum tosten Gischt und sintflutartiger Regen. Die Brecher waren so hoch, dass sie das Boot überragten, das ein ums andere Mal in tiefen Wellentälern versank. Es war wie ein Wunder, dass es immer wieder auftauchte. Hastig rafften die Matrosen die Segel, während Seagull den Griff um das Steuerruder lockerte. Er konnte nichts anderes tun, als mit wenig Tuch vor dem Wind zu segeln und zu hoffen, dass sie dieses Inferno so schnell wie möglich hinter sich bringen würden.
    Die beiden Jungen saßen vor ihm auf dem Deck und klammerten sich an der Reling fest. Seagull fragte sich, ob sie vielleicht bald seekrank wären und ob er sie unter Deck schicken sollte. Und dann fiel ihm ein, was er sich wegen Jonathan überlegt hatte, des Jungen, der sein Geheimnis kannte. Eine bessere Gelegenheit würde sich wohl nicht mehr ergeben. Ein kleiner Stoß mit dem Fuß, wenn gerade niemand hinsah, und der Kleine würde über Bord gehen. Und dass er bei diesem Seegang gerettet werden würde, war kaum vorzustellen.
    Seagull konnte das Ufer nicht erkennen, doch er schätzte, dass der Wind, der sie nach Westen drückte, sie entweder nach Keyhaven oder zu der Landzunge aus Kies und Sand treiben würde, die in die Mündung des Solent hineinragte. In jedem Fall würden sie wohlbehalten am Strand landen können. Zum Glück gab es dort keine Riffe.
    Er wusste nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Ihm erschien es wie eine kleine Ewigkeit, doch er war zu sehr mit dem Steuerruder beschäftigt, durfte nicht die Gewalt über das in der Brandung schlingernde Schiff verlieren. So konnte er nur schätzen, dass sie die Landzunge bald erreicht haben mussten. Endlich war er zu dem Schluss gelangt, dass es nicht mehr weit sein konnte, als der dichte Regen wegen einer Wolkenlücke plötzlich für einen Moment nachließ. Trotz der peitschenden Gischt und des heulenden Windes konnte er etwa einen drei viertel Kilometer weit sehen. Dann wurde die Sicht sogar besser, und ihm war, als schaue er in eine gewaltige graue Röhre. Und als sich das Boot schließlich aus einem Wellental erhob, bot sich ihm ein Anblick, der ihm den Atem verschlug.
    Es war wie eine Geistererscheinung – ein riesiger, schmaler Dreimaster, etwa fünfzig Meter lang, tauchte gespenstisch hinter dem dünner werdenden Regenschleier auf. Seagull erkannte das Schiff sofort, denn in diesen Gewässern konnte es nur eines sein: eine große Galeere aus Venedig, die auf dem Weg nach Southampton in den Solent einfuhr. Diese Galeeren waren prächtige Schiffe und hatten sich seit dem Altertum kaum verändert. Sie waren mit drei Lateinsegeln bestückt und konnten mit ihren in drei Reihen angeordneten mächtigen Rudern fast alle Gewässer durchschiffen. Wie zur Zeit der Römer waren sie mit hundertsiebzig Ruderern, manchmal Galeerensklaven, bemannt. Da sie nicht über viel Lagerraum verfügten, transportierten sie nur wertvolle Güter: Zimt, Ingwer, Muskatnuss, Nelken und andere orientalische Gewürze; teure Düfte wie Weihrauch; Medikamente; Seide, Satin, Teppiche und Wandbehänge, Möbel und venezianisches Glas. Sie waren gewissermaßen schwimmende Schatzkammern.
    Doch es war nicht der Anblick dieses Schiffes, der Seagull vor Schreck erstarren ließ, sondern sein Kurs. Denn die venezianische Galeere befand sich genau vor ihnen und blockierte die schmale Rinne, die aus dem Solent führte. Er stieß einen Schrei aus. Wie hatte er nur so dumm sein können? Wegen des heftigen Sturms hatte er eine wichtige Sache vergessen: die Gezeiten.
    Die Ebbe hatte begonnen. Also hielten sie nicht auf die sichere Landzunge zu. Stattdessen blies der Wind sie direkt in die Strömung hinein, die sie unwiederbringlich aus dem Solent heraus und auf das tosende offene Meer tragen würde.
    »An die Ruder!«, brüllte er. Er warf sich gegen das Steuer. Das Boot schlingerte heftig.
    Er konnte gerade noch erkennen, wie die beiden Jungen, die nicht mit diesem Manöver gerechnet hatten, über das Deck in Richtung Wasser purzelten.
    Als es in Lymington Abend wurde, hatten viele insgeheim die Hoffnung schon aufgegeben.
    Eigentlich stimmte die Bezeichnung Abend nicht ganz, denn Türen und Fensterläden waren schon längst wegen des heulenden Sturms und des peitschenden Regens geschlossen. Der einzige Unterschied zum Nachmittag bestand darin, dass sich

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