Der Wald der Könige
messerscharf.
Die Galeere hatte schwere Schlagseite. Ein Mast war abgebrochen und hing über die Bordwand. Die Ruder auf der nach oben gewandten Seite waren entweder abgeknickt oder zeigten wahllos gen Himmel. Während Seagull zusah, trudelte das Schiff weiter hilflos im Kreis. Und dann wurde es – alles Sträuben war vergeblich – wieder und wieder gegen die Nadeln geschleudert.
Da nahm ihm wieder ein Regenschauer die Sicht. Zuerst konnte er noch die nahe gelegenen Klippen erkennen, dann verschwanden auch sie im Dunst. Obwohl Seagull bis Einbruch der Dunkelheit Wache hielt, erblickte er die Galeere nicht mehr.
Jonathan verbrachte eine ungemütliche Nacht. Zum Glück befanden sich einige Decken an Bord, sodass die beiden Jungen es im Lagerraum wenigstens einigermaßen warm und trocken hatten. Die Männer bauten sich aus Segeltuch ein Zelt. Alan Seagull blieb am Strand; ihn kümmerte das Wetter nicht.
Erst in den frühen Morgenstunden ließ der Sturm nach. Bei Tagesanbruch weckte Seagull die anderen.
Als sie im Morgengrauen die Landzunge umsegelten, war von der Galeere nichts zu sehen. Der Himmel war immer noch bewölkt, das Meer unruhig. Es dauerte nicht lange, bis Seagull einen Ruf ausstieß und auf etwas zeigte, das im Wasser schwamm. Es war ein langes Ruder. Kurz darauf war noch ein Gegenstand zu sehen: ein kleines Fass. Sie holten es an Bord.
»Zimt«, verkündete der Seemann. Bald entdeckten sie weitere Teile der Ladung. »Nelken«, stellte Alan Seagull fest.
Offenbar war die Galeere gesunken. Wenn sie vor dem Untergehen auseinander gebrochen war, würden noch einige Fässer auf dem Wasser treiben.
»Mein Vater kennt die Strömungen«, erklärte Willie. »Er weiß, wo wir die Sachen finden können.«
Aber zu Jonathans Verwunderung kehrte der Seemann bald wieder an Land zurück. »Warum drehen wir um?«, fragte Jonathan seinen Freund, der ihn mit einem merkwürdigen Blick bedachte.
»Wir müssen nach Überlebenden suchen«, erwiderte er ausweichend. Für einen Menschen, der an die weißen Klippen unweit der Nadeln geschleudert wurde, bestand jedoch keine Hoffnung mehr. Der nächstgelegene Strand war mehr als vier Kilometer entfernt und bei Dunkelheit schwer zu finden. Außerdem konnten die meisten Seeleute in jener Zeit nicht schwimmen. Wenn die Galeere draußen auf dem Meer gekentert war, war der Großteil der Besatzung vermutlich ertrunken. Aber man konnte nie wissen. Vielleicht war jemand mit einem Stück des Wracks an Land gespült worden.
Sie gingen etwa fünf Kilometer entfernt von der Landzunge an der Küste in einer kleinen Flussmündung vor Anker. Nachdem sie das Schiff vor neugierigen Blicken versteckt hatten, machten sich Seagull und seine Mannschaft daran, die Gegend zu durchkämmen. An den Stränden war niemand zu sehen. Die Küste war zum Großteil mit Gebüsch und Heidekraut bewachsen. Seagull wies die Jungen an, das Boot zu bewachen, und verschwand.
Jonathan bemerkte, dass er einen kleinen Sparren aufgehoben hatte und ihn wie einen Knüppel hielt. »Wohin wollen sie?«, erkundigte er sich, als die Männer fort waren.
»Sie werden die Küste entlang ausschwärmen.«
»Glaubst du, es gibt Überlebende?«
Wieder bedachte Willie ihn mit einem merkwürdigen Blick. »Nein«, sagte er.
Endlich begriff Jonathan. Damals herrschte auf Englands Meeren ein hartes, aber schlichtes Gesetz. Die Ladung eines Wracks gehörte dem, der sie fand, außer Überlebende des Schiffbruchs erhoben Anspruch darauf – weshalb es natürlich nur selten welche gab.
Während die Jungen warteten, wurde es ein wenig heller. Etwa zur gleichen Zeit erreichte Henry Totton das Ende der Landzunge an der Einfahrt zum Solent und starrte aufs Meer hinaus.
Seit Tagesanbruch war er auf den Beinen. Nachdem er sich kurz an der Flussmündung umgesehen hatte, war er über das Penningtoner Marschland und vorbei an den Salzgärten nach Keyhaven marschiert. Von dort aus hatte er guten Blick auf die Insel Wight und die nahe gelegene Küste. Kein Schiff war in Sicht. Anschließend hatte er seinen Weg zur Landzunge fortgesetzt, in der Hoffnung, dass das Boot vielleicht dort gestrandet war. Aber vergeblich.
Nun stand er an der Spitze der Landzunge und betrachtete die schmale Rinne. Er suchte sich eine Stelle, von wo aus er die so genannten Nadeln erkennen konnte, und ließ den Blick über die lang gestreckte Küste des Forest schweifen. Da Seagulls Boot inzwischen in der kleinen Flussmündung versteckt war, bemerkte er es
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