Der Wald der Könige
Albtraum gewesen. Sie hatten das Segel eingeholt und waren gerudert, doch immer wenn sie glaubten, ein wenig vorangekommen zu sein, hatte die Strömung sie gnadenlos wieder auf die Galeere zugetrieben. Gelegentlich konnten sie das große Schiff erkennen, das sich nicht zu bewegen schien und gespenstisch hinter einem Regenschleier verharrte. Aus Leibeskräften rudernd, hatten die Männer endlich die Kiesbank der Landzunge erreicht, obwohl die Strömung immer noch heftig an ihrem Boot zerrte. Nun saß das Schiff inzwischen am Rande der Rinne, die zum offenen Meer führte, auf Grund.
Aber Seagull hatte nun andere Dinge im Kopf. Schützend hielt er die Hände vor Augen und spähte angestrengt über das Wasser.
Der Sturm hatte nicht nachgelassen, doch vom Ufer aus betrachtet wirkte es, als entstünden immer wieder Lücken in den vorbeiziehenden grauen Wolken, aus denen heftiger Regen herniederprasselte. Während der Schauer konnte man nicht die Hand vor Augen sehen, doch in den kurzen Pausen dazwischen hatte Seagull einigermaßen klare Sicht über das aufgewühlte Wasser.
Nach einer Weile drehte er sich um. Die Jungen und die Mannschaft suchten an der Leeseite des Bootes, das sie auf den Strand geschleppt hatten, Schutz vor dem Regen.
»Was tun wir jetzt, Alan?«, rief einer der Männer. »Gehen wir zu Fuß nach Keyhaven?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Darum.« Als er mit dem Finger zeigte, bemerkten auch die anderen die riesige Galeere draußen auf dem Wasser. »Sie rührt sich nicht«, meinte Seagull. »Wisst ihr, was das bedeutet?« Der Mann nickte. »Ich denke nicht, dass sie außer uns jemand bemerkt hat«, fuhr Seagull fort.
»Vielleicht kriegen sie sie ja wieder flott.«
»Oder auch nicht. Also warten wir ab.«
Mit diesen Worten bezog er erneut seinen Beobachtungsposten.
Die Kiesbänke an der westlichen Mündung des Solent bedeuteten eigentlich keine Gefahr. Erstens waren sie so gut bekannt, dass jeder Kapitän wusste, wie er sie umschiffen konnte. Und zweitens verlief zwischen ihnen eine tiefe Rinne. Nur ein einziges Wendemanöver war nötig, wenn man sich der Spitze der Insel Wight näherte. Doch während der Frühjahrsstürme geschah es öfter, dass ein Schiff dort auf Grund lief und havarierte.
Ganz offensichtlich war der Galeere genau das widerfahren. Bei Ebbe würde sie gestrandet im Sturm daliegen. Vielleicht kenterte sie sogar und brach auseinander. Trotz der schlechten Sicht hatte Seagull den Eindruck, dass die Mannschaft versuchte, sie mit Hilfe der Ruder flottzumachen. Einmal neigte sie sich sogar zur Seite. Es verging eine Weile, bis der Regen wieder nachließ, sodass er sie weiter beobachten konnte.
Als er sie kurz durch einen Regenschleier erblickte, bemerkte er, dass die eine Hälfte nicht mehr auf der Kiesbank festsaß. Es war ihr gelungen, sich zu drehen, und die Bewegung dauerte an, während Seagull zusah. Nun stand sie quer zur Strömung, sodass ihre Seite schutzlos dem Sturm ausgesetzt war. Dann begann sie zu kentern. Im nächsten Moment ging wieder sintflutartiger Regen hernieder, der ihm die Sicht versperrte.
Eine lange Zeit verstrich. Seagull konnte nichts mehr erkennen. Der Sturm heulte. Die armen Teufel, dachte er. Gewiss mühten sie sich schrecklich ab. War die Galeere gesunken? Angestrengt, aber vergeblich, spähte er in den Regen.
Und dann, als wären seine Gebete erhört worden, ließ der Regen nach. Es nieselte nur noch leicht. Seagull erkannte vor sich die Mitte des Kanals, wo sich die Kiesbänke befanden. Die Sicht reichte sogar noch weiter, sodass er verschwommen die mehr als anderthalb Kilometer gegenüber liegenden weißen Klippen der Insel erblickte. Er traute seinen Augen nicht: Die Galeere war verschwunden.
Ohne seine Männer einer Erklärung zu würdigen, rannte er zu der dem Meer zugewandten Seite der Landzunge. Die Wolken verzogen sich. Vom einige hundert Meter entfernten Strand aus, der auf den Ärmelkanal zeigte, machte er die Spitze der Insel aus. Und die Galeere.
An der Westseite der Insel Wight waren die alten Kreidefelsen schon vor langer Zeit abgesackt und im Meer versunken. Nur vier an Zähne erinnernde Spitzen unweit des Klippenrandes waren übrig geblieben und zeugten davon, dass die Insel nicht an dieser Stelle endete, sondern sich unter Wasser noch ein Stück weiter erstreckte. Diese mächtigen Felszacken, die fast zehn Meter hoch aus dem Ärmelkanal ragten, wurden auch die Nadeln genannt. Sie bestanden aus Kreidefelsen und waren hart und
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