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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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nicht. Doch als er im Wasser Wrackteile entdeckte, hielt er sie, da er nichts von der venezianischen Galeere wusste, für Überreste von Seagulls Boot. Er nahm an, dass Jonathan ertrunken war, und schritt die ganze Westseite der Landzunge ab, um die Leiche seines Sohnes zu suchen. Doch auf der Landzunge lagen keine Ertrunkenen, da die Strömung sie weit fortgetragen hatte.
    Da sah er seinen guten, alten Freund Burrard auf sich zukommen, der schon seit dem Morgen Ausschau nach ihm hielt. Er legte Totton den Arm um die Schulter und brachte ihn nach Hause.
     
     
    Das Warten neben dem Boot war langweilig. Die beiden Jungen wagten es zwar nicht, wegzulaufen, da Seagull jeden Augenblick zurückkommen konnte, doch sie begaben sich abwechselnd auf Entdeckungsreise an den Strand.
    Allmählich spülte die Flut weitere Gegenstände heran. Ein Ruder, ein paar Taue, ein zerbrochenes Fass.
    Und Leichen.
    Jonathan hatte gerade den Inhalt einer Schiffstruhe durchwühlt, als er den Toten sah. Er trieb, das Gesicht nach unten, in etwa zehn Metern Entfernung draußen auf dem Wasser und wurde von den Wellen immer näher herangetragen. Ein wenig ängstlich, aber auch neugierig schaute Jonathan hin.
    Wahrscheinlich hätte er die Flucht ergriffen, wenn ihm nicht etwas aufgefallen wäre. Der Mann trug ein Gewand aus kostbarem Brokat mit eingewirkten Goldfäden. Sein Hemd war mit feinster Spitze eingefasst. Offenbar handelte es sich um einen reichen Herrn, einen Kaufmann oder sogar einen Adeligen, der das Schiff auf seiner Reise nach Norden begleitet hatte. Vorsichtig näherte er sich.
    Jonathan hatte noch nie selbst einen Ertrunkenen gesehen und kannte nur Beschreibungen: bläuliche Haut, aufgedunsenes Gesicht. Er watete hinaus zu dem Toten, bis ihm das Wasser bis zur Taille ging. Die Leiche fühlte sich schwer an und schien mit Wasser vollgesogen zu sein. Jonathan wendete den Blick vom Kopf des Mannes ab und betastete seine Taille. Er trug einen Gürtel, der nicht aus Leder, sondern aus Goldfäden bestand. Jonathan schloss die Finger darum und musste die Leiche deshalb näher zu sich heranziehen.
    Auf einmal schlugen die Arme des Toten aus, als wollten sie den Jungen ergreifen. Einen schrecklichen Augenblick lang befürchtete Jonathan, die Leiche würde ihn packen, unter Wasser ziehen und ebenfalls ertränken. In Todesangst sprang er zurück, verlor das Gleichgewicht und stolperte. Unter Wasser erblickte er das grausige Gesicht der Leiche, die mit weit aufgerissenen Augen auf den Meeresgrund starrte.
    Jonathan rappelte sich auf, nahm all seinen Mut zusammen und näherte sich wieder dem Ertrunkenen. Er schob dessen Arme weg, griff wieder nach dem Gürtel, holte tief Luft und tastete unter Wasser, bis er fand, was er suchte.
    Der Lederbeutel war mit einem Riemen am Gürtel befestigt, allerdings nur mit einem einfachen Knoten verschlossen. Es dauerte eine Weile, bis Jonathan ihn gelöst hatte, da die Leiche von den Wellen hin und her geschaukelt wurde. Das Wasser reichte ihm noch zu den Knien, als es ihm endlich gelang. Der Beutel war schwer. Ohne ihn zu öffnen, blickte Jonathan sich um, ob er beobachtet worden war. Kein Mensch war in Sicht. Willie saß noch neben dem Boot an der Flussmündung. Die Riemen waren gerade lang genug, dass Jonathan sie sich unter der Kleidung um den Leib schnüren konnte. Dann zog er sein durchweichtes Hemd und sein Wams über den Beutel und kehrte zu seinem Freund zurück.
    »Du bist ja ganz nass«, meinte Willie. »Hast du was gefunden?«
    »Eine Leiche«, erwiderte Jonathan. »Aber ich habe Angst, sie anzufassen.«
    »Oh«, sagte Willie und rannte los. Kurz darauf war er wieder da. »Er ist an den Strand gespült worden. Ich habe das da entdeckt.« Er hielt den Gürtel hoch. »Der ist bestimmt einiges wert.«
    Jonathan nickte und schwieg.
    Sie mussten noch eine Weile warten, bis Seagull erschien. Der Anblick des Gürtels schien ihn zu erstaunen, aber er sagte nichts.
    »Habt ihr jemanden getroffen, Vater?«, fragte Willie.
    »Nein, mein Sohn. Da war niemand. Wahrscheinlich werden die Leichen bald an den Strand gespült.« Er überlegte einen Moment. »Wir segeln los und schauen nach, ob wir noch etwas finden. Bestimmt werden wir dafür den ganzen Tag brauchen!« Jonathan war sicher, dass Alan Seagull alles Wertvolle aufstöbern würde, was im Umkreis von vielen Kilometern an den Stränden oder im Ärmelkanal schwamm. »Ihr Jungen geht nach Hause. Sag deiner Mutter, wo wir sind«, wies er seinen Sohn an.

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