Der Wald der Könige
»Dein Vater macht sich bestimmt Sorgen um dich«, meinte er dann zu Jonathan. »Spute dich also, dass du nach Hause kommst. Versprochen?«
Gehorsam machten sich die beiden Jungen auf den Weg. Über das Penningtoner Marschland waren es nur siebeneinhalb Kilometer. Sie schritten kräftig aus.
Als Jonathan von der kleinen Kirche aus die High Street hinunterkam und sich dem Haus seines Vaters näherte, fiel fahles Sonnenlicht zwischen den Wolken auf Lymington. Er stellte fest, dass die Leute ihn anstarrten. Eine Frau stürzte sogar auf ihn zu, packte ihn am Arm und begann, Gott dafür zu danken, dass er ihn gerettet hatte. Es dauerte eine Weile, bis Jonathan sich höflich aus ihrem Griff befreit hatte. Und da er nicht noch einmal aufgehalten werden wollte, fing er an zu rennen.
Am Haus angekommen, ging er von der Straße aus zuerst ins Kontor seines Vaters, denn er wollte ihn überraschen. Als er den Raum leer vorfand, trat er in die Halle mit der Empore, wo ebenfalls Stille herrschte.
Zuerst vermutete er, dass wirklich niemand zu Hause war. Kein Dienstbote zu sehen. Das Licht schien durch das hohe Fenster hinein und erleuchtete den schmucklosen Raum; er wirkte wie ein Hof, den seine Besitzer vor dem Auszug noch einmal blank gefegt hatten. Erst nach ein paar Schritten stellte Jonathan fest, dass jemand in dem Stuhl unter der Empore saß.
Da der Stuhl leicht seitlich abgewandt stand, sah er zuerst das Ohr seines Vaters. Doch dieser hatte ihn nicht gehört. In seiner üblichen Haltung saß er da und starrte geradeaus wie im Traum. Leise schlich sich der Junge näher und betrachtete das Gesicht seines Vaters.
Noch nie hatte er seinen Vater trauern gesehen. Beim Tod seiner Frau hatte Totton sich seinen Schmerz nicht anmerken lassen, um seinen Sohn zu schonen. Aber da er sich nun allein wähnte, ließ er stumm und niedergeschlagen die Bilder vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen: den Säugling, den er geliebt, aber seiner Mutter überlassen hatte, wie es sich schickte; das kleine Kind, für das er trotz aller Zuneigung nichts anderes getan hatte, als sein Leben zu verplanen; den Jungen, den er nicht hatte trösten können; den Sohn, der nur von ihm fortsegeln wollte; den Sohn, den er verloren hatte.
Bestürzt erkannte Jonathan die Trauer seines Vaters. »Vater.«
Totton wandte sich um.
»Es ist gut ausgegangen. Wir haben es überstanden.« Der Junge trat einen Schritt vor. »Wir sind die Küste entlang abgetrieben worden.« Totton starrte ihn immer noch an wie eine Geistererscheinung. »Es hat im Sturm einen Schiffbruch gegeben. Alan Seagull ist noch draußen.«
»Jonathan?«
»Mir ist nichts geschehen, Vater.«
»Jonathan?«
»Ist dein Boot wohlbehalten zurückgekommen?«
Henry Totton war wie benommen. »Oh, ja.«
»Also hast du die Wette gewonnen.«
»Die Wette?« Entgeistert starrte der Kaufmann seinen Sohn an. »Die Wette?« Er blinzelte. »Mein Gott, was kümmert mich die Wette, solange ich nur dich wiederhabe?«
Bei diesen Worten warf Jonathan sich seinem Vater in die Arme.
Henry Totton brach in Tränen aus.
Nachdem sie sich einige Minuten lang umarmt hatten, machte Jonathan sich sanft los und griff nach dem Beutel, den er um die Taille trug. »Ich habe dir etwas mitgebracht, Vater«, sagte er.
»Schau.« Er öffnete den Beutel und holte den Inhalt heraus. Es waren Goldmünzen. »Dukaten«, meinte er.
»Das ist richtig, Jonathan.«
»Weißt du, was sie wert sind, Vater?«
»Ja, in der Tat.«
»Ich auch.« Und zum Erstaunen seines Vaters wiederholte Jonathan völlig fehlerfrei die Lektion, die dieser ihm vor drei Wochen erteilt hatte.
»Das ist alles richtig«, sagte Totton erfreut.
»Siehst du, Vater«, erwiderte der Junge glücklich. »Einige Dinge, die du mir erklärst, merke ich mir auch.«
»Die Dukaten gehören dir, Jonathan.« Totton lächelte.
»Ich habe sie für dich geholt«, entgegnete sein Sohn. Er überlegte kurz. »Wollen wir sie uns nicht teilen?«
»Warum nicht?«, antwortete Henry Totton.
DER ARMADABAUM
1587
»Du wirst mich ein kleines Stück auf meiner Reise begleiten.«
Er spürte, wie ihn bei diesen Worten Mutlosigkeit ergriff. »Mit Vergnügen«, log er und fühlte sich dabei wie ein Schuljunge.
Er war vierzig Jahre alt – und sie war seine Mutter.
Die Straße – eher ein breiter, mit Gras bewachsener Pfad –, die von Sarum nach Südosten führte, verlief quer über die großen Wiesen, inmitten deren die Stadt lag, und stieg dann
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