Der Wald der Könige
allmählich steil an. Sie hatten die Kathedrale bereits vor einer Weile hinter sich gelassen und befanden sich nun auf dem Weg, der bergan über die steile Anhöhe führte, den südöstlichen Rand des großen Beckens, wo die fünf Flüsse zusammentrafen. Die Luft an diesem Septembermorgen war zwar ein wenig frisch, doch der Himmel war klar und blau.
Albions Mutter hatte sich aus keinem belanglosen Grund zu dieser Reise entschlossen. Erst nachdem ihr der Bräutigam dreimal nachdrücklich das beste Zimmer im Hause eines der reichsten Kaufleute von Salisbury zugesichert hatte, war sie bereit gewesen, zur Hochzeit zu erscheinen, ohne ihre eigenen Möbel mitzubringen. Dennoch folgte ihrer Kutsche – die mit einem Kutscher und einem Burschen bemannt war und von einem Reiter begleitet wurde – noch ein Wagen. Dieser ächzte unter dem Gewicht zweier Diener, zweier Zofen und unzähliger Truhen, die ihre Kleider, Mäntel, Schuhe und eine umfangreiche Sammlung von Toilettenutensilien enthielten. Der Kutscher schwor, dass in einem der Kästen gewiss ein römisch-katholischer Priester versteckt war. Gott sei Dank war das Herbstwetter noch trocken, sonst wäre die kleine Karawane sicher im Schlamm stecken geblieben. Meine Mutter hat wirklich sehr klar umrissene Vorstellungen davon, was sich gehört, dachte Albion, der neben der Kutsche herritt, und sie verzichtet nur ungern auf ihre Bequemlichkeit. Oben am Gipfel ordnete sie plötzlich eine Rast an und verlangte nach ihrer Sänfte.
Wortlos bauten der Bursche und die Diener sie zusammen, ließen die Stangen einrasten und brachten sie zur Tür der Kutsche. Als Albions Mutter das Gefährt verließ, stellte ihr Sohn fest, dass sie bereits hölzerne Überschuhe trug, um ihre Füße vor Schmutz zu schützen. Also hatte sie diese Pause geplant. Er hätte es sich eigentlich denken müssen. Nun wies sie auf den Pfad, der zum Gipfel führte. Offenbar wollte sie dort hinauf und erwartete von ihm, dass er sie begleitete. Deshalb stieg er ab und ging hinter der Sänfte her, die von vier Männern getragen wurde. Die seltsame kleine Prozession, die sich vom Himmel abhob, wanderte die Bergkette entlang, während Schäfchenwolken über ihren Köpfen dahinschwebten.
Oben angelangt, befahl sie, die Sänfte abzusetzen, und stieg aus. Die Männer wies sie an, in einiger Entfernung zu warten. Dann winkte sie ihren Sohn zu sich. »Und jetzt, Clement«, meinte sie lächelnd – den Namen hatte sie sich ausgesucht, nicht sein Vater –, »möchte ich mit dir sprechen.«
»Gerne, Mutter«, erwiderte er.
Wenigstens hatte sie für diese Unterredung einen malerischen Ort gewählt. Die Aussicht, die sich einem von den Klippen unterhalb Sarums bot, gehörte zu den schönsten in ganz England. Wenn man den Weg zurückblickte, den sie gekommen waren, bemerkte man, wie anmutig der Abhang zum üppig grünen Tal hin abfiel. Etwa sechs Kilometer entfernt ragte der Dom von Salisbury wie ein grauer Schwan aus dem Avontal auf. Sein eleganter Turm erhob sich so hoch, dass man hätte meinen können, es handle sich um die Spindel, von der aus sich die umliegenden Berge verteilt hatten – so wie Ton auf einer Drehscheibe, angetrieben von einem Geist aus grauer Vorzeit. Im Norden war der gedrungene Schlossberg von Old Sarum inmitten eines Meers aus Kreidefelsen zu sehen. Im Osten erstreckte sich, so weit das Auge blickte, die fruchtbare Hügellandschaft von Wessex.
Doch im Süden, und dorthin führte ihre Reise, hatte man die weiteste Aussicht. Denn dort lag, kilometerweit terrassenförmig abgestuft, der gewaltige New Forest, eine Wildnis aus Eichenwäldern, Kiesbänken, Ginsterbüschen und Heidekraut, die bis hinüber nach Southampton reichte. In etwa dreißig Kilometern Entfernung erblickte man die dunstigen blauen Hügel der Insel Wight auf dem Wasser.
Clement Albion stand vor seiner Mutter auf dem kahlen Felsen und fragte sich, was sie wohl von ihm wollte.
Ihre Eröffnungsworte klangen nicht sehr aufmunternd. »Wir sollten den Tod nicht fürchten, Clement.« Sie lächelte ihn freundlich an. »Ich hatte noch nie Angst vor dem Sterben.«
Lady Albion – ihr Gatte war zwar kein Ritter gewesen, aber man sprach sie dennoch so an – war eine hoch gewachsene, schlanke Frau. Ihr Gesicht war weiß gepudert, und sie hatte – Gott hatte es so gefallen – natürlich rote Lippen. Ihre Augen waren dunkel und blickten traurig drein. Nur wenn sie wütend wurde, begannen sie zu funkeln.
Einem unbeteiligten Besucher wäre
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