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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Böcke waren noch jung und zögerten.
    Doch niemand hätte vorausahnen können, was die Hirsche als Nächstes taten. Erstaunen malte sich in den Gesichtern der Jäger, als die Böcke herumwirbelten und einfach durch ihre Reihen brachen. Selbst Martell blickte ihnen entgeistert und mit offenem Mund nach. Der stolze Normanne hatte sich von ein paar jungen Hirschen demütigen lassen. Adela zügelte ihr Pferd und fing lauthals an zu lachen.
    »Komm schon«, erinnerte Walter sie gereizt an ihre Pflichten. Adela holte die anderen rasch ein. Die beiden Gruppen hatten sich inzwischen vereint, Edgar, Walter und Hugh de Martell ritten nun gemeinsam. Obwohl die Hirsche immer wieder Haken schlugen, gab es keine Hoffnung auf Entrinnen. Mittlerweile hatten die anderen Jäger ihnen weitere Tiere zugetrieben. Während sie auf Lyndhurst zugaloppierten, trafen sie noch zweimal mit anderen Gruppen zusammen. Nach einer Weile konnte Adela ihre kleine Herde nur noch an der weißlichen Hirschkuh erkennen, die zwischen den anderen wild umherspringenden Tieren dahinstürmte. Die kleine Hirschkuh ist wirklich hübsch, dachte Adela. Vielleicht war es ja nur Einbildung, aber ihr erschien es, als ob sie sich von den anderen unterschied, und sie bedauerte es sehr, dass so ein schönes Tier getötet werden sollte.
    Sie stellte fest, dass Edgar einige Male in ihre Richtung blickte. Und sie war ziemlich sicher, dass auch Hugh de Martell sie einmal ansah, wobei sie sich allerdings fragte, ob sie Tadel in seinen Augen gelesen hatte. Aber obwohl sie ihn weiter beobachtete, schien er sie nicht mehr wahrzunehmen. Sie ritten immer schneller und schneller und preschten in rasendem Tempo dahin. »Ihr haltet Euch wacker!«, rief Edgar ihr aufmunternd zu.
    Die nächsten Minuten waren die aufregendsten in ihrem Leben. Die Landschaft sauste an ihr vorbei. Die Jäger riefen laut durcheinander. Adela war nicht sicher, ob sie selbst auch einen Schrei ausgestoßen hatte, und sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war oder wo sie sich befand, als sie den leichtfüßigen Hirschen nachsetzte. Ein- oder zweimal bemerkte sie Edgars und Hugh de Martells aufmerksam angespannte Mienen. Gewiss waren sie zufrieden mit sich, auch wenn die Böcke ihnen entkommen waren, denn sie hatten an diesem Tag eindeutig das größte Rudel von allen zusammengetrieben. Wie wild und bedrohlich die beiden Männer mit einem Mal wirkten.
    Und sie, Adela de la Rôche, teilte ihren Ruhm. Hirsche zu töten mochte zwar grausam sein, war aber unvermeidbar. Es gehörte eben zur Natur. Menschen mussten essen. Und Gott hatte ihnen zu diesem Zweck die Tiere geschenkt. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
    Zu ihrer Rechten erkannte Adela jenseits der Bäume die königliche Jagdhütte. Sie konnte es kaum fassen, dass sie Lyndhurst bereits erreicht hatten. Den Reitern vor ihr war es nicht gelungen, die Herde daran zu hindern, sich aufzuteilen, und eine Gruppe Hirschkühe, auch die weißliche, hatte es geschafft, in ein Waldstück zu fliehen. Martell und einige andere galoppierten ihnen nach, um ihnen den Weg abzuschneiden.
    Adela blickte nach links und entdeckte Walter dicht hinter sich.
    Offenbar hatte sie ihn überholt, ohne es zu bemerken, und er gab sich die größte Mühe, seinen Rückstand wieder wettzumachen, während vor ihnen bereits die Falle zu sehen war. Als er näher kam, konnte sie sein Profil sehen, und trotz ihrer Freude und Aufregung erschauderte sie plötzlich.
    Sein Gesicht war gerötet und angespannt, und seine derben Züge wirkten – auf unerklärliche Weise – immer noch dümmlich und selbstzufrieden. Doch es war etwas anderes, das ihr in diesem Moment auffiel: seine Grausamkeit. Anders als Edgar, in dessen Miene sich Entschlossenheit gemalt hatte, sah Walter aus, als hätte er Lust am Töten. Ein widerwärtiger Anblick. Kurz hatte sie den merkwürdigen Eindruck, als hinge sein Gesicht mit dem diensteifrigen Ausdruck und dem kleinen Schnurrbart in der Luft und schwebe schadenfroh über die Hirsche hinweg.
    Und es war grausam, ganz gleich, wie notwendig es auch sein mochte. Man durfte die Augen nicht vor der Wahrheit verschließen und vor dem, was nun kommen würde: Colas gekonnt geplante Treibjagd, die riesige Falle vor ihnen, die trostlosen, nur zu diesem Zweck errichteten Holzzäune im Wald, die Netze, das Aussondern; sie würden nicht nur einen Hirsch oder vielleicht zehn töten, sondern einen nach dem anderen, bis sie hundert beisammen hatten. Es war schrecklich, dass so

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