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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Leute. Und aus diesem Grund wurde die Eiche, seit Albion denken konnte, Rufuseiche genannt.
    Allerdings zweifelte Albion an dieser Legende. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Eichen in dem ziemlich kärglichen Boden des New Forest wirklich so alt wurden.
    »Eine Eiche lebt siebenmal so lange wie ein Mensch«, hatte sein Vater ihm vor vielen Jahren erklärt. Nach Albions Schätzung waren nur wenige der großen, vermodernden, mit Efeu bewachsenen, über sechs Meter dicken Stämme über vierhundert Jahre alt. Und er war mehr oder weniger überzeugt, dass er mit seiner Schätzung richtig lag. Die Rufuseiche war seiner Ansicht nach noch keine fünfhundert Jahre alt.
    Und dennoch strahlte der mächtige Baum etwas Beeindruckendes, ja, sogar Magisches aus.
    Der Baum hatte schon viel erlebt.
    Es war fast dreihundert Jahre her, dass Luke, der flüchtige Laienbruder, sie an einen sicheren Ort umgepflanzt hatte. Seitdem hatten sich die Grenzen des Waldes – wie so häufig – ein wenig verschoben. Hirsche und andere Pflanzenfresser hatten die frischen Schösslinge auf der mit Gras bewachsenen Lichtung verzehrt und so Platz geschaffen, sodass der Baum ungehindert wachsen konnte. Während seine Brüder im Wald inmitten ihrer Nachbarn lang und schmal in die Höhe geschossen waren, hatten die Äste der Rufuseiche sich auf der Suche nach Licht auch zu den Seiten hin ausgebreitet.
    Trotz des Namens, den die Menschen ihr gaben, hatte das Leben der Rufuseiche erst zwei Jahrhunderte nach dem gewaltsamen Tod des rothaarigen Königs begonnen. Ohnehin war der normannische Herrscher in einem ganz anderen Teil des New Forest gestorben. Dennoch hatte die Eiche schon viel erlebt.
    Der Baum wusste, dass der Winter nahte. Bald würden ihm seine Tausende von Blättern, die das Sonnenlicht einfingen, in der kalten Jahreszeit zur Last werden. Und deshalb richtete sich sein innerer Kreislauf bereits auf den Winterschlaf ein. Die Adern, durch die der Saft in die Blätter und wieder zurückfloss, schlossen sich allmählich.
    Die restliche Feuchtigkeit im Laub verdunstete in der Septembersonne, sodass es verdorrte und sich gelb verfärbte. Und wie der männliche Hirsch, dem zur entsprechenden Jahreszeit die Blutzufuhr zum Geweih versiegt, bis es vertrocknet, sodass er es schließlich abwirft, würde auch der Baum seine goldenen Blätter fallen lassen.
    Davor jedoch entledigte sich die Eiche einer anderen Bürde.
    Die grünen Eicheln purzelten bereits zu Tausenden auf die Erde. Und in einigen Wochen würden sich unzählige Fledermäuse zum Winterschlaf in die Baumhöhlen zurückziehen. Andere Vögel, die Drosseln und Rohrammern, trafen gerade aus raueren Gefilden im New Forest ein. Der Efeu, der die unteren Zweige entlang kroch, würde diese Jahreszeit zur Blüte nutzen und so die Insekten anlocken, die bis jetzt zu beschäftigt gewesen waren, um seine Blüten zu bestäuben.
    Die Eiche versorgte den New Forest mit Nahrung, und zwar nicht nur mit Eicheln. Ihre Rinde wies zahlreiche Risse und Nischen auf, in denen Millionen winziger Insekten und anderes Getier wimmelten. Im Herbst würden sich die Meisen in Scharen dort niederlassen und ein Festmahl abhalten. Kleiber würden den Stamm hinunterlaufen, während Kriechtiere nach oben krabbelten, sodass ihnen ja nichts entging.
    Albion stieg vom Pferd. Nachdem seine Mutter ostwärts in Richtung Romsey und Winchester weitergefahren war, war er gemächlich durch den New Forest geritten, hatte hie und da in Weilern Rast gemacht und gehofft, in der Stille des Waldes wieder zur Ruhe zu kommen. Aber vergeblich. Nicht nur seine Mutter hatte ihm einen Schrecken eingejagt, ihm graute außerdem vor der Aufgabe, die ihm am nächsten Tag bevorstand. Deshalb war er froh, jetzt unter der großen, ausladenden Eiche verweilen zu können.
    Er fragte sich, warum die mächtige Eiche ihm so viel Kraft gab. Worin lag ihr Zauber? War es der bloße Anblick des riesigen, knorrigen, starken Baumes? Doch da war noch ein anderes Gefühl, das ihn häufig überkam, wenn er am Stamm einer ausgewachsenen, gewaltigen Eiche stand: Fast war ihm, als schlösse ihn der Baum in seine Kraft mit ein, die man, auch wenn sie unsichtbar war, fast mit Händen greifen konnte. Albion hätte darauf schwören können, eine Erklärung dafür hatte er allerdings nicht.
    Ein wenig gekräftigt trat Albion unter dem Baum hervor, um sich den Gefahren des kommenden Tages zu stellen.
    Jane Furzey war froh, mit dem hoch gewachsenen, stattlichen Nick Pride

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