Der Wald der Könige
bestimmt. Gottes Wille wird geschehen.«
Wie benommen griff er nach dem Brief. »Woher hast du ihn?«, fragte er mit heiserer Stimme.
»Von deiner Schwester natürlich. Ein Kaufmann überbringt mir ihre Briefe. Und andere Dinge.«
»Aber Mutter. Wenn jemand davon erfährt. Cecil und der Rat haben ihre Spione…« Sehr gute sogar, wie allgemein bekannt war. »Solch ein Brief…« Seine Stimme erstarb. Wenn ein solches Schreiben abgefangen wurde, bedeutete das den Tod.
Schweigend betrachtete sie ihn eine Weile. Doch als sie weitersprach, war ihr Tonfall erstaunlich sanft. »Auch die Gläubigsten unter uns haben Angst«, sagte sie leise. »So stellt Gott uns auf die Probe. Und dennoch«, fuhr sie fort, »gibt uns die Gottesfurcht auch Mut. Denn siehst du, Clement, wir können dem Allmächtigen nicht entrinnen. Er ist überall. Er kennt uns alle und beurteilt uns. Wir haben keine andere Wahl, als ihm zu gehorchen, wenn wir an ihn glauben. Nur der mangelnde Glaube hält uns zurück und hindert uns daran, für ihn zu den Waffen zu greifen.«
»Der Glaube ist nicht immer leicht, Mutter.«
»Und deshalb, Clement«, sprach sie ernst weiter, »schickt er uns Zeichen. Unser guter Gott tut Wunder. Die Heiligen und ihre Reliquien können noch heute Wunder vollbringen. Schenkt uns Gott nicht hier im New Forest jedes Jahr wieder ein neues Wunder?«
»Du meinst wohl die Eichen?«
»Natürlich, was sonst?«
Seit vielen Generationen standen im New Forest nun schon drei Wundereichen, und zwar in der Gegend nördlich von Lyndhurst. Sie waren uralt und unterschieden sich – soweit Clement wusste – von ihren sämtlichen Artgenossen im New Forest. Denn sie brachten auf geheimnisvolle Weise mitten im Winter, zur Zeit des Weihnachtsfestes, wenn alle anderen Bäume kahl waren, grüne Blätter hervor. Deshalb nannte man sie auch die grünen Bäume.
Niemand hatte eine Erklärung dafür. Die grünen Blätter im Winter widersprachen allen Gesetzen der Natur. Also war es nicht weiter erstaunlich, dass die fromme Lady Albion und viele ihrer Mitstreiter darin eine Erinnerung an die Kreuzigung Jesu Christi sahen, an die drei Kreuze auf dem Kalvarienberg und die Auferstehung der Toten. Für sie deutete es darauf hin, dass Gott überall war und dass auch die heilige Kirche in jedem Jahr neue Triebe bekam.
»Oh, Clement.« Plötzlich traten ihr Tränen in die Augen. »Gottes Zeichen sind überall. Du brauchst keine Furcht zu haben.« Sie sah ihn liebevoll an. So viel mütterliche Zuneigung hatte er bei ihr noch nie erlebt. »Wenn wir von der Ketzerei befreit sind und König Philipp regiert, wirst du Ruhm ernten. Aber wenn die Sache – was ich kaum zu denken wage – nach Gottes Willen ein anderes Ende nimmt, wäre es mir lieber, mein Sohn, dass du auf den Scheiterhaufen gebunden oder sogar gevierteilt wirst, anstatt deinen Gott, unseren Vater im Himmel, zu verraten.«
Er wusste, dass sie jedes dieser Worte ernst meinte. »Und wie lauten meine Instruktionen, Mutter?«
»Du sollst mit deiner Miliz die Festung einnehmen, Clement, und den Spaniern bei der Landung helfen.«
»Wo?«
»Zwischen Southampton und Lymington. Es wird nicht leicht sein, die Küste des New Forest zu verteidigen.«
»Soll ich auf diesen Brief antworten?«
»Das ist nicht nötig.« Sie strahlte übers ganze Gesicht. »Ich habe es bereits getan und ein Schreiben an deine Schwester geschickt, das Don Diego an den spanischen König selbst weiterleiten wird. Ich habe geschrieben, dass man sich auf dich verlassen kann. Bis in den Tod.«
Er blickte nach Süden über den New Forest in Richtung Southampton und betrachtete den blauen Dunst über der fernen Küste. Befand sich ihr Brief womöglich schon in den Händen von Cecils Spionen? Albion fragte sich, ob er das Weihnachtsfest noch erleben würde. »Danke, Mutter«, murmelte er spöttisch.
Doch seine Mutter hatte ihn nicht gehört, denn sie winkte schon die Dienstboten mit der Sänfte heran.
Die Eiche stand ein wenig abseits vom restlichen Wald.
Es war ein warmer Nachmittag.
Im Wald bildeten die Kronen der stattlichen Buchen gemeinsam mit den knorrigen Eichen ein dichtes Blätterdach. Der Boden war mit Moos bedeckt. Bis auf das leise Rascheln der Blätter und das Geräusch, das entstand, wenn eine grüne Eichel vom Baum fiel, war es still.
Hinter dem Baum, auf einem kleinen, mit jungen Eichen bewachsenen Hügel, befand sich eine grüne Lichtung, die bei Sonnenuntergang im Schatten lag.
Allein ritt Albion
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