Der Wald der Könige
im Boden sorgte der Zucker im Saft dafür, dass der Baum nicht einfror.
Am Tag der heiligen Lucia, dem dreizehnten Dezember, zur Wintersonnwende, fiel bei Morgengrauen Schneeregen. Gegen Mittag fror es. Und als in den kurzen Stunden vor dem grauen Ende des Tages eine bleiche Sonne vom Himmel schien, hingen Eiszapfen von der Krone der Eiche, so als sei ein weißhaariger Waldbewohner aus uralter Zeit hier vorbeigekommen und an Ort und Stelle erstarrt. Während die fahle Sonne das Eis zum Funkeln brachte, pfiff ein Wind durch die Zapfen und ließ sie noch mehr gefrieren.
Irgendwo oben in einer Astgabel saß eine große Eule reglos auf einem verlassenen Taubennest. Sie war eine Besucherin aus den eisstarrenden Wäldern Skandinaviens und hatte sich über die Wintermonate auf der milderen Insel einquartiert. Ausdruckslos starrte sie in den Schnee.
Über dem Ruheplatz der Eule hingen Fledermäuse wie geflügelte Pelzkugeln in einer geschwärzten Baumhöhle und hielten Winterschlaf. Überall auf dem Baum, auf Ästen und Zweigen, hatten sich Larven wie die der Wintermotte fest in ihre Kokons eingesponnen. Weiter unten am gewaltigen Baumstamm kauerten Spinnen hinter Fensterscheiben aus Eis in ihren Löchern. Rings um die Wurzeln herum lagen von Eis überzogene, geknickte Farnwedel und abgefallenes Laub.
Unter der Erde wurden Würmer, Schnecken und andere Erdgeschöpfe durch die Schicht gefrorener Blätter vor der bitteren Kälte geschützt. Doch die Drosseln und Amseln in den Büschen wirkten struppig und abgemagert. Nach zwei Wochen Dauerfrost würden sie so ausgezehrt und geschwächt sein, dass sie den Winter nicht überstanden. Nur das Rotkehlchen mit seinem aufgeplusterten Wintergefieder und die Rohrammern würden wahrscheinlich überleben.
Inzwischen fühlte sie sich sehr schwach. Schon im Sommer hatte sie gespürt, dass etwas im Argen lag, noch vor dem Herbsttag, an dem sie Puckle nach Hurst begleitet hatte, um die Holzkohle abzuliefern. Seitdem dachte sie an die Zukunft.
Sie hatte es mit sämtlichen ihr bekannten Heilmitteln versucht. Und sie tat alles, um sich zu schützen. Jeden Monat, wenn der Mond vom Mädchen zur Mutter heranwuchs und dann wieder zum alten Weib schrumpfte, hatte sie heimlich gebetet. Dreimal hatte sie den Mond beschworen. Doch als der Winter kam, wusste sie, dass es keine Rettung für sie gab. Sie würde diese Welt verlassen müssen.
Die Natur ist grausam, aber auch gnädig. Der Krebs, der Puckles Frau das Leben aussaugte, veränderte ihren Körper. Ihre Haut wurde blasser, ihr Blut dünner, und allmählich ergriff Schläfrigkeit Besitz von ihr. So würde sie einem frühen Ende entgegendämmern, bevor das Geschwür sich endgültig in ihr breit machte und ihren Körper mit Schmerzen peinigte.
Sie und Puckle hatten drei Kinder. Sie liebte ihren Mann, und sie wusste genau, dass das Leben nach ihrem Tod weitergehen musste. Und deshalb betete sie heimlich und tat das, was sie für das Beste hielt.
Nun war die Mitternachtsstunde des Jahres angebrochen, in der die Sonne täglich kaum acht Stunden scheint und die ganze Welt in abgrundtiefer Finsternis zu versinken droht.
Drei Wochen später, einige Tage nach Weihnachten, kam Clement Albion vorbeigeritten.
Kurz vor dem Festtag hatte der Frost ein wenig nachgelassen. Der Boden unter den Hufen seines Pferdes knisterte zwar noch, doch er sah, wie ein paar Vögel im abgefallenen Laub um einen Wurm kämpften. Ein Eichhörnchen sauste wie ein roter Blitz vorbei und verschwand hinter einigen Schlehenbüschen.
Im Wald waren die emporragenden grauen und silbrigen Zweige nackt. Nur hie und da waren dunkelgrüner Efeu oder bleiche Fichten zu sehen. Auch die Eichen in der Lichtung waren kahl.
Die abseits stehende Eiche hingegen bot einen seltsamen Anblick. Sie hatte die Eiszapfen abgeworfen. Und aus den winzigen, prallen Knospen waren kleine Blätter entsprungen. Mitten im Winter war der Baum grün. Albion betrachtete ihn schweigend. Nichts rührte sich.
Warum grünte dieser Baum im New Forest im Winter, wie es auch in den Geschichtsbüchern verzeichnet ist? Vielleicht war ihm während des Wachstums etwas zugestoßen – ein Blitzeinschlag zum Beispiel –, das seine innere Uhr durcheinander gebracht hatte, welche die Entwicklung der Blätter steuert und die wir bis heute nicht ganz verstehen. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass es sich um eine Abweichung im Erbgut handelte. Wenn es nicht zum winterlichen Versiegelungsprozess kommt, behalten
Weitere Kostenlose Bücher