Der Wald der Könige
späten Nachmittag im Schatten der mächtigen Eiche rastete, nahm die Geräusche des Waldes überdeutlich wahr. Es wimmelte hier von Vögeln – Laubsängern und Meisen, Rotschwänzchen und Kleibern. Doch da Paarungszeit und Brutzeit längst vorbei und die Jungen zum Großteil schon flügge waren, sangen sie nur noch leise und selten. Bloß das Gurren der Tauben hallte weiterhin ständig durch den Wald. Das stete Zirpen der Grillen, das Surren unzähliger Insekten und das Summen der Bienen, die sich am duftenden Geißblatt labten, vereinten sich zu einer trägen Sommermelodie, der Jane gerne lauschte.
Für gewöhnlich saß Jane eine Stunde unter dem Baum. Sie beobachtete die bunten Raupen und blickte zu den grünen Schatten der anderen Eichen in diesem Hain hinüber. Hin und wieder dachte sie an die herannahende Armada und den jungen Nick an seinem Signalfeuer. Ab und zu kamen ihr Puckle und ihre eigene Familie in den Sinn. Wenn sie sich zum Gehen anschickte, wirkte sie – wenigstens von außen betrachtet – ganz ruhig.
Seine Mutter war verschwunden.
Als Albion an einem Spätnachmittag in der dritten Juliwoche nach Hause kam, erfuhr er, dass sie ausgeritten und schon seit Stunden nicht mehr gesehen worden war. Obwohl er deshalb ein schlechtes Gewissen hatte, hoffte er kurz, sie möge gestürzt oder an einem überhängenden Ast im Wald hangen geblieben sein und sich das Genick gebrochen haben. »Und sie hat nicht gesagt, wohin sie wollte?«, fragte er seine Frau.
»Kein Wort.«
»Warum hast du sie nicht aufgehalten?« Der Blick seiner Frau sagte ihm, wie albern diese Frage war. »Nein.« Er seufzte. »Das wäre wohl nicht gut möglich gewesen.«
Tot oder lebendig. Er würde losziehen und sie suchen müssen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit blieb ihm noch genug Zeit. Allerdings fürchtete er sich vor dem, was diese Nacht ihm bringen mochte. Ein Stelldichein mit der spanischen Armee lag durchaus im Bereich des Möglichen. »Gott steh uns bei«, murmelte er.
Als Lady Albion den Rufusbaum erreichte, war sie sehr mit sich zufrieden. Sie fand, dass sie so etwas eigentlich schon früher hätte tun sollen.
Sie war einen ziemlich großen Bogen geritten. Nachdem sie bei Albions stillem Haus die Furt überquert hatte, schlug sie den Weg nach Brockenhurst ein, sah sich dort die kleine Kirche an und plauderte mit ein paar Dorfbewohnern. Die meisten der Leute waren ihr zwar noch nie begegnet, doch der Besuch der seltsamen Lady in Albions Haus hatte sich schon längst herumgesprochen. Und deshalb wusste man beim Anblick der merkwürdigen, in Schwarz gekleideten Gestalt sofort, mit wem man es zu tun hatte. Allerdings waren verschiedene Gerüchte über sie im Umlauf. Während der Landadel gut über die Familie Pitts und über Albions Schwierigkeiten im Bilde war, tappten die Dörfler mehr oder weniger im Dunkeln. Dreißig Jahre waren vergangen, seit Lady Albion im New Forest gelebt hatte, sodass sich nur wenige undeutlich an sie erinnerten. Man hatte gehört, dass sie fromm und eine Nonkonformistin war, doch das störte nicht weiter. Denn es hieß, sie sei außerdem noch wohlhabend, und das war auf keinen Fall zu verachten. Vielleicht würde sie sich ja als großzügig erweisen, wenn man sich bei ihr beliebt machte. Einige meinten, sie habe den Verstand verloren, und das eröffnete ebenfalls mannigfaltige Möglichkeiten. Deshalb zogen alle höflich die Mützen oder salutierten und versammelten sich hoffnungsfroh um sie.
Und sie konnte wirklich gut mit ihnen umgehen, schließlich war sie nicht umsonst eine Pitts. Ihre ungezwungene und doch aristokratische Art und ihre freundlichen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.
Lady Albion erklärte, sie habe die Kirche besichtigt und bedaure, dass diese auf Grund von Nachlässigkeit ein wenig heruntergekommen sei. Selbstverständlich unterstelle sie den Dörflern keinesfalls bösen Willen. Sofort sagten ihr einige lange Gesichter in der Menge, dass einige der Leute auf ihrer Seite standen. Doch sie schwieg dazu, und nachdem sie ihnen höflich einen guten Tag gewünscht hatte, ritt sie weiter in Richtung Lyndhurst. Die Dorfbewohner waren einhellig der Ansicht, dass Lady Albion nicht verrückt, sondern eine Dame mit hervorragenden Manieren war.
In Lyndhurst hatte sie einen Häusler angetroffen und ein ähnliches Gespräch mit ihm geführt. Danach hatte sie Minstead umrundet und war durch Brook geritten, wo sie das Ganze wiederholte.
Als sie sich nun dem Baum näherte, sah sie
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