Der Wald der Könige
Wahrscheinlich würde ich das auch tun. Er fragte sich, wo sie den Brief wohl versteckt hatte. Ob er ihr Zimmer durchsuchen sollte? Oder ihre Kleidung, während sie schlief? Er gelangte zu dem Schluss, dass es hoffnungslos war.
Und dann schoss ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf. War das vielleicht eine Finte, eine List von ihr? Gab es vielleicht gar keinen Brief? Hatte sie ihn erfunden, um ihn auf die Probe zu stellen und um zu sehen, wie er sich verhalten würde? War sie so verschlagen? Durchaus möglich.
»Ich bedauere es, dass du Geheimnisse vor mir hast, Mutter«, sagte er steif, doch sie ließ sich davon überhaupt nicht anfechten.
Doch das, was am nächsten Tag geschah, war noch um einiges beängstigender. Zufällig begegnete er in Lymington Thomas Gorges. Und dieser bedachte ihn, nachdem sie eine Weile geplaudert hatten, mit einem scharfen Blick und meinte: »Wir versuchen immer noch herauszufinden, welche Absichten die Spanier hegen, Clement. Und wir haben den Verdacht, dass Nonkonformisten hier in England Briefe empfangen, deren Inhalt vielleicht wichtig ist.«
»Ich halte das für unmöglich.« Albion bemühte sich um Ruhe.
»Leute wie deine Mutter.«
Albion konnte nicht verhindern, dass er erbleichte. »Meine Mutter?«
»Sind für sie Briefe, Boten oder seltsame Besucher gekommen? Das hättest du doch bemerken müssen.«
»Ich…« Er überlegte fieberhaft. Wusste Gorges von dem Brief? Wenn ja, musste er sich ihm dann nicht anvertrauen? Sollten die Behörden seine Mutter doch durchsuchen und ihr Geheimnis enthüllen, wenn er selbst es schon nicht wagte. Aber was würden sie finden? Nur der Himmel konnte sagen, ob der Brief vielleicht etwas enthielt, was ihn belastete. Er durfte es also nicht riskieren. »Ich habe keine Ahnung von einem solchen Brief«, erwiderte er zögernd. »Aber ich werde sie fragen.« Und dann kam ihm noch eine Idee: »Hast du sie in Verdacht, Thomas? Nicht auszudenken, was sie in ihrer Narrheit alles anrichten könnte.«
»Nein, Clement. Ich habe mich nur ganz allgemein erkundigt.«
Albion betrachtete sein Gesicht. Was war, wenn er log? Gorges war viel zu schlau, um sich zu verraten. Und dann fiel ihm etwas Schreckliches ein: Möglicherweise wussten Gorges oder seine Vorgesetzten nicht nur von dem Brief, sondern hatten ihn sogar gelesen. In diesem Fall wäre Gorges besser im Bilde gewesen als er selbst. Ob das eine Falle war? »Selbst wenn meine Mutter einen Brief vom spanischen König höchstpersönlich erhalten hätte, Thomas«, sagte er, »würde sie es mir wahrscheinlich verschweigen, denn sie weiß genau, wie treu ich unserer Königin ergeben bin. Das ist die Wahrheit.«
»Ich vertraue dir, Clement«, entgegnete Gorges und ging davon. Aber wenn ein Mann einem anderen gegenüber behauptet, er vertraue ihm, überlegte Albion bedrückt, meint er damit meistens genau das Gegenteil.
Nick Pride hatte sich als fähiger junger Bursche erwiesen.
»Wer hält Wacht in Malwood?«, pflegte Albion während seiner Inspektionsbesuche zu rufen, die Mitte Juli fast täglich stattfanden. Er hatte festgestellt, dass es dem jungen Mann gefiel, so begrüßt zu werden.
»Nicholas Pride, Sir«, antwortete der Bursche. »Und alles ist in Ordnung, Ihr könnt zufrieden sein.«
Es war zwar nur eine Formsache, aber Albion sah sich alles genau an.
Man hatte das Signalfeuer am höchsten Punkt des alten Erdwalls angelegt, von wo aus man eine sehr gute Aussicht hatte, da Albion das Gelände hatte abholzen lassen. Es bestand aus einem dicken, etwa dreieinhalb Meter hohen Pfahl, der einige Meter tief in den Boden gerammt worden war und von vier Stangen oder Strebebalken gestützt wurde, die wie Halteseile zur Mitte hinreichten. Oben auf dem Pfahl befand sich ein großes Eisenfass. Es enthielt eine Mischung aus Pech, Teer und Flachs, die stundenlang lichterloh brennen würde.
Dieses Teerfass erreichte man mit Hilfe einer Leiter, einer mit Sprossen versehenen Stange. Entfacht wurde es mit einer brennenden Fackel. Und um Feuer für das Anzünden der Fackel bereitzuhaben, hielten Nick und seine Kameraden Tag und Nacht ein Kohlenbecken am Brennen.
Nick teilte sich die Wache stets mit einem anderen Mann. Wer gerade keinen Dienst hatte, ruhte sich in einer kleinen Holzhütte gleich hinter dem Erdwall aus. Hin und wieder kamen Leute aus dem Dorf herauf, um ihnen Gesellschaft zu leisten. Doch aus irgendeinem Grund hatte der Rat das Mitbringen von Hunden zu den Signalfeuern verboten. Vermutlich
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