Der Wald der Könige
Tage vergingen. Das Wetter im New Forest blieb schön. Es hieß, die Spanier hätten schon Segel gesetzt, doch niemand wusste, wo sie sich befanden. Die englische Flotte lag in Plymouth im Westen. Die Signalfeuer waren bereit, doch keine Nachricht traf ein. Der junge Nick Pride oben in Malwood war in heller Aufregung. Jane besuchte ihn jeden Abend, und heute hatte sie versprochen, länger zu bleiben, um ihm bei der Nachtwache Gesellschaft zu leisten. »Aber ich könnte einschlafen, Nick«, warnte sie ihn.
»Das macht nichts.« Er lächelte selbstbewusst. »Ich werde wach bleiben.«
Als es dämmerte, erzählte sie deshalb ihren Eltern, sie werde die Nacht bei Nick in Malwood verbringen, und schlug von Brook aus den üblichen Weg vorbei am Rufusbaum ein. Die Schatten wurden schon länger, als sie die alte Eiche erreichte. Sie ging weiter und hatte eigentlich nicht vor stehen zu bleiben, als sie plötzlich bemerkte, dass sie nicht allein war. Unter den nahe gelegenen Bäumen stand ein kleiner Wagen. Und darin saß Puckle.
Jane zuckte zusammen. Er beobachtete sie stumm. Sie fragte sich, ob er wohl schon lange dort war und ob er auf jemanden wartete. Offenbar schien er damit zu rechnen, dass sie näher kam. Und genau das tat sie nun auch, obwohl ihr das Herz bis zum Halse klopfte.
»Was bringt Euch hierher?«, fragte sie lächelnd.
Als sie ihn erreicht hatte, hob er langsam den Blick. Seine Augen waren sehr klar, groß und hell und sahen sie unverwandt an. »Ihr.«
Jane spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie erinnerte sich, dass sie ihm einmal gesagt hatte, sie nehme stets diesen Weg nach Malwood. Also hatte er sie sehen wollen. Sie bemühte sich, die Ruhe zu bewahren. »Und was kann ich für Euch tun?«
Er musterte sie weiter ruhig. »Ihr könntet zuerst einmal in den Wagen steigen.«
Der Atem stockte ihr, und ein kleiner Schauder durchfuhr ihren Körper. »Oh?« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Und wohin fahren wir?«
»Nach Hause.«
Zum Haus ihrer Eltern? Stirnrunzelnd sah sie ihn an und blickte dann zu Boden. Er meinte sein Haus, die Hütte in Burley mit dem geschnitzten Bett. Dass er es wagte, ihr einen solchen Vorschlag zu machen, war fast anstößig. Sie wich seinem Blick aus. Seinem Verhalten nach zu urteilen, kam es für ihn offenbar nicht in Frage, dass sie ablehnen könnte. Er war gekommen, um sie zu holen, ganz einfach so, ohne sich um Sitte und Moral zu scheren. Eigentlich hätte sie kehrtmachen und davongehen müssen. Aber wider alle Vernunft empfand sie nur eine unglaubliche Erleichterung, die sie sich jedoch nicht anmerken ließ.
Jedes anständige Mädchen hätte ihn stehen gelassen, doch Jane war wie gelähmt.
»Ich muss mit Nick Nachtwache am Signalfeuer halten«, brachte sie schließlich heraus.
»Verlasst ihn.« Seine Stimme war so ruhig wie die Dämmerung.
Sie schüttelte den Kopf und hielt stirnrunzelnd inne. »Ich muss ihm Bescheid geben.«
»Ich werden solange warten.«
Sie wandte sich um und lief in Richtung Malwood. Scharlachrotes Licht fing sich im Laub der Bäume. Einmal blickte sie sich zur Rufuseiche um, die in einen orangefarbenen Lichtschein getaucht war. Puckle hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Sie marschierte weiter.
Was sollte sie jetzt tun? Sie wusste es nicht. Oder vielleicht doch? Nein, schalt sie sich, sie war völlig ratlos. Sie musste mit Nick Pride sprechen und ihn ansehen.
Bald hatte sie die alte Befestigungsanlage erreicht. Als sie eintrat, malte der feurige Sonnenuntergang über dem New Forest einen leuchtenden Halbmond auf die dunkelgrünen Wälle.
Nick, der bei der Hütte stand, kam aufgeregt auf sie zu. »Es ist Zeit hinaufzusteigen. Du kommst zu spät.«
Wie jung er wirkte. Wie reizend. Jane wurde von Zuneigung ergriffen. Aber er war eigentlich noch kein Mann.
Sie folgte ihm auf den Wall neben dem Signalfeuer. Währenddessen erzählte er ihr rasch vom vergangenen Tag und davon, dass einer seiner Männer fast seine Wache verpasst hätte. Er klang so stolz, und Jane freute sich für ihn.
Nach einer Weile sagte sie: »Ich muss kurz noch einmal zurück nach Brook, Nick. Aber ich versuche, später wiederzukommen.«
»Oh.« Er runzelte die Stirn. »Stimmt etwas nicht?«
»Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen. Es dauert sicher nicht lang.«
»Aber du kannst nach Dunkelwerden nicht allein durch den Wald gehen.«
»Doch, das geht schon, wenn ich es zeitlich schaffe. Ich kenne den Weg.«
»Heute Nacht scheint der Mond«, meinte
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