Der Wald der Könige
»Eigentlich wollte ich dich nicht mitnehmen, aber ich dachte, es könnte dir vor der Reise nach Winchester nicht schaden. So hast du ein paar Tage Zeit, wieder Manieren zu lernen. Besonders«, meinte er, »solltest du dir Martells Frau, Lady Maud, zum Beispiel nehmen. Sie weiß, wie man sich beträgt. Betrachte sie als Vorbild.«
Das Dorf lag in einem lang gezogenen Tal. Auf den Hügeln zu beiden Seiten erstreckten sich bis zu den Gipfeln Weizen- und Hopfenfelder, fein säuberlich in Streifen eingeteilt. Es war ein ziemlich großes Dorf, an dessen Eingang, zwischen Teich und Dorfanger, eine kleine angelsächsische Kirche stand. Die Katen waren gewissenhaft eingezäunt, alles wirkte viel gepflegter als sonst in solchen Ortschaften. Selbst die Dorfstraße war blitzsauber, wie von einer unsichtbaren, ordnenden Hand gefegt. Die breite Straße mündete am Pförtnerhaus des Anwesens. Sie ritten durch das Tor und blickten auf eine große, viereckige Anordnung landwirtschaftlicher Gebäude aus Holzbohlen und Stein. Zu ihrer Rechten befand sich jenseits eines makellosen Hofes die stattliche Halle mit ihren Nebengebäuden, alle aus behauenem Flint erbaut und mit spitzen Strohdächern, aus denen auch nicht ein Halm hervorragte. Das war kein gewöhnlicher Herrensitz, sondern das Machtzentrum eines großen Gutes, dessen abweisende, dunkle Fassade wie die eines Schlosses verkündete: »Dieses Land gehört dem Feudalherrn. Verneigt euch.«
Ein Knappe und ein Stallbursche liefen auf die beiden Neuankömmlinge zu, um ihnen die Pferde abzunehmen. Dann öffnete sich die Tür der Halle, und Hugh de Martell kam ihnen raschen Schrittes entgegen.
Er wirkte freundlicher, als Adela ihn in Erinnerung hatte. Lächelnd streckte er seinen langen Arm aus, um ihr vom Pferd zu helfen. Als Adela seine Hand ergriff, bemerkte sie kurz die dunklen Härchen an seinen Handgelenken.
Nachdem sie abgestiegen war, trat er einen Schritt zurück, und bevor Walter etwas sagen konnte, meinte er: »Ein Glück, dass Ihr heute erst kommt, Walter. Ich wurde gestern nach Tarrant gerufen und musste den ganzen Tag dort verbringen.« Er ging ihnen voran und hielt Adela die Tür auf.
Die Halle war geräumig, hoch wie eine Scheune und wurde von gewaltigen Eichenbalken gestützt. Der Boden war mit Binsenmatten bedeckt. Zwei blitzblank polierte Eichentische standen zu beiden Seiten des riesigen offenen Kamins in der Mitte. Die hölzernen Fensterläden waren geöffnet, und ein angenehmes, helles Licht strömte durch die Fenster herein. Adela sah sich nach ihrer Gastgeberin um, und schon im nächsten Augenblick kam die Lady durch eine kleine Tür am anderen Ende des Raumes und eilte sofort auf Tyrrell zu.
»Seid mir willkommen, Walter«, sagte sie leise, als er ihre Hand ergriff. »Wir freuen uns über Euren Besuch.« Nach kurzem Zögern wandte sie sich an Adela. »Über den Euren ebenfalls.« Trotz ihres Lächelns merkte man ihr an, dass sie, was den gesellschaftlichen Rang ihres jungen Gastes betraf, ihre Zweifel hatte.
»Meine Verwandte Adela de la Rôche«, stellte Walter sie mit wenig Begeisterung vor.
Doch es war nicht die kühle Begrüßung, die Adela aufmerken ließ, sondern das Aussehen der Frau.
Sie hatte sich Hugh de Martells Gattin ganz anders vorgestellt. Sie hatte angenommen, dass sie ihm im Äußeren entsprach – hoch gewachsen, schön, etwa in seinem Alter. Doch diese Frau war nur wenig älter als sie selbst. Sie war von kleinem Wuchs und keinesfalls schön. Ihre Gesichtszüge, obwohl nicht unansehnlich, erschienen Adela unregelmäßig, vor allem die schmalen Lippen wirkten, als hätte sie jemand auf einer Seite nach oben gezogen. Ihr Gewand war zwar aus gutem Tuch, hatte aber einen zu hellen Grünton, der ihr Gesicht noch teigiger wirken ließ. Sie sah aus wie ein graues Mäuschen, fand Adela.
Allerdings blieb ihr keine Zeit, ihre Gastgeberin weiter zu beobachten. Das Haus verfügte über zwei Gästezimmer, eines für Männer, eines für Frauen. Und nachdem die Hausherrin ihr das Frauengemach gezeigt hatte, ließ sie Adela dort allein. Als Adela kurz darauf in die Halle zurückkehrte und Walter dort antraf, fragte sie leise: »Wann hat Martell denn geheiratet?«
»Erst vor drei Jahren.« Walter blickte sich um und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Er hat seine erste Frau verloren. Sie und ihr einziges Kind. Das hat ihm das Herz gebrochen. Danach ist er lange Junggeselle geblieben, doch dann hat er beschlossen, es noch ein zweites Mal zu
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