Der Wald der Könige
Es hatte doch nur wenige Sekunden gedauert, über die Wiese zu eilen und sich die tote Hirschkuh auf die Schultern zu laden. Doch offenbar hatte er zu viel Zeit gebraucht. Wie konnte er nur solches Pech haben?
Nun war er ausgerechnet diesem Mädchen in die Arme gelaufen. Einer Normannin. Und um das Maß voll zu machen, wusste der ganze Wald, dass sie mit Edgar befreundet war.
Jetzt war er ertappt worden, »mit roten Händen«, wie es im Jagd- und Forstgesetz hieß. Er trug den Hirsch auf dem Rücken, und seine Hände waren mit Blut besudelt. Es gab kein Entrinnen. Sein Leben war verwirkt. Verstümmelung. Man würde ihm Arm oder Bein abhacken oder ihn sogar hängen.
Er sah sich unruhig um: Sie waren allein. Kurz überlegte er, ob er sie töten sollte, doch sofort verwarf er diesen Gedanken. Als er sich aufrichtete und sich stolz wie ein Löwe vor ihr aufbaute, glitt ihm die Hirschkuh von den Schultern. Auch wenn er sich noch so sehr vor dem Tod fürchtete, er würde es sich nicht anmerken lassen.
Und dann dachte er an seine Familie. An seine Frau und seine Kinder. Was sollte aus ihnen werden, wenn er am Galgen baumelte? Plötzlich standen sie ihm deutlich vor Augen: die vier Kinder, seine kleinste Tochter, die erst drei Jahre alt war. Das verbitterte Gesicht seiner Frau, die mit jeder ihrer Warnungen Recht behalten hatte. Wie sollte er seinen Kindern bloß erklären, was er angestellt hatte? Er konnte sich schon hilflos sagen hören: »Ich habe eine Riesendummheit gemacht.« Unwillkürlich schnappte er nach Luft.
Und was sollte er jetzt tun? Das normannische Mädchen um Gnade anflehen? Warum sollte sie Erbarmen mit ihm haben? Es war ihre Pflicht, Edgar zu melden, was sie gesehen hatte.
»Ein schöner Tag heute, findest du nicht?«
Er blinzelte. Was hatte sie da gesagt?
»Ich bin am Morgen früh losgeritten«, fuhr sie ruhig fort. »Eigentlich wollte ich gar nicht so weit, aber das Wetter war sehr gut. Wenn ich diesen Weg nehme« – sie zeigte in die entsprechende Richtung –, »komme ich doch sicher nach Brockenhurst.«
Er nickte ein wenig verdattert. Sie redete weiter, als ob überhaupt nichts geschehen wäre. Was zum Teufel hatte sie vor?
Und dann verstand er. Sie hatte den Hirsch nicht angesehen.
Stattdessen blickte sie ihm unverwandt ins Gesicht. Mein Gott, jetzt erkundigte sie sich nach seinen Kindern. Er stammelte eine Antwort. Der Hirsch existierte nicht. Nun dämmerte es ihm. Sie plauderte über Alltäglichkeiten, damit er auch wirklich begriff. Sie hatte den Hirsch nicht bemerkt. Sie wollte weder seine Verbündete werden noch die Schuld mit ihm teilen. Keine Peinlichkeiten, keine Verpflichtungen, dafür war sie zu klug. Darüber war sie erhaben.
Sie fragte ihn noch nach dem kürzesten Rückweg, ohne den Hirsch, der vor ihr auf dem Boden lag, auch nur eines Blickes zu würdigen. »Nun, Godwin Pride«, verkündete sie schließlich. »Ich muss weiter.« Mit diesen Worten wendete sie ihr Pferd, winkte ihm zu und war verschwunden.
Pride atmete erleichtert auf.
Dieses Mädchen besaß wirklich innere Größe.
Kurz darauf war der Hirsch sicher in seinem Versteck verstaut, und Pride machte sich auf den Heimweg. Beim Gehen fiel ihm noch etwas ein, und ein finsteres Lächeln spielte um seine Lippen.
Ein Glück, überlegte er, dass er nicht die weißliche Hirschkuh erschossen hatte.
Als Adela am Abend nach Christchurch zurückkehrte, wurde sie zu ihrer Überraschung von einem mürrischen Walter Tyrrell erwartet.
»Wenn du nicht so spät gekommen wärst, hätten wir heute noch aufbrechen können«, tadelte er sie. »Gleich morgen früh reiten wir los. Sieh zu, dass du rechtzeitig fertig bist«, befahl er.
»Wohin geht es?«, erkundigte sie sich.
»Nach Winchester«, erwiderte er, als läge die Antwort auf der Hand.
Winchester, endlich eine Stadt, in der etwas geboten war. Es würden Angehörige des Hofes anwesend sein, Ritter, wichtige Leute.
»Doch zuvor«, fügte er hinzu, »werden wir einige Tage auf einem Gut in dieser Gegend verbringen.«
»Wem gehört es?«
»Hugh de Martell.«
Am nächsten Morgen war das Wetter umgeschlagen. Als sie sich ihrem Ziel näherten, stieg eine riesige, graue Wolke am Horizont auf und verdunkelte die Sonne. Die Strahlen, die an ihren Rändern hervorschimmerten, tauchten die Landschaft in ein mattes Licht.
Unterwegs hatte Walter wie meist verdrießlich geschwiegen. Doch als sie die letzte lange Bergkette erreichten, meinte er mürrisch:
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