Der Wald der Könige
unter den Füßen und stand sicher im Gras. Sein Spiegel zitterte, als er sich seinem Widersacher entgegenstemmte. Seine Schultern hoben sich, er reckte den Hals nach unten. Und nun geriet der Nebenbuhler auf dem feuchten Laub ins Rutschen. Langsam und vorsichtig, die Geweihe immer noch ineinander verkeilt, drehten sich die Böcke, bis sie beide im Gras standen. Plötzlich wich der Herausforderer zurück. Sein Kopf machte einen Ruck. Mit der abgebrochenen Augsprosse zielte er auf das Auge ihres Bockes und stürmte voran. Sie sah, wie ihr Bock zurücksprang und sich dann auf seinen Gegner stürzte. Mit seinem ganzen Gewicht warf er sich gegen das Geweih seines Widersachers. Ein Knirschen ertönte. Wegen seines heimtückischen Vorstoßes stand der Herausforderer nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, sodass es ihm den Hals zur Seite drehte. Er konnte dem Angriff nicht standhalten.
Und dann, wie aus heiterem Himmel, war alles vorbei. Ihr Bock drängte seinen Nebenbuhler Stück für Stück zurück. Der Gegner verlor das Gleichgewicht, taumelte, drehte sich und wurde an der Flanke getroffen. Nun war ihr Bock voll in Fahrt, stieß, schleuderte den Kopf herum und trieb den Konkurrenten vor sich her. Blut tropfte dem Herausforderer aus der Seite. Da versetzte ihm ihr Bock noch einen mächtigen Hieb mit dem Geweih. Mit einem Aufschrei machte der Eindringling kehrt, stolperte und verließ hinkend die Brunftkuhle. Es war ausgestanden.
Nachdem der Bock majestätisch die Brunftkuhle abgeschritten hatte, über die er nun uneingeschränkt herrschte, wandte sich sein Blick der Hirschkuh zu. Warum sah er auf einmal so fremd aus? Sein riesiges Geweih, sein dreieckiges Gesicht, die beiden Augen, wie schwarze Löcher, die sie ausdruckslos anstarrten. Es war, als gäbe es ihren Bock nicht mehr, so, als hätte er einem unbekannten Wesen namens »Hirsch« Platz gemacht. Ein Traumbild, ein Geist, blitzschnell und Furcht erregend. Er kam auf sie zu.
Sie drehte sich um. Das wurde von ihr erwartet, es war instinktiv, doch sie hatte auch Angst davor. Das ganze Jahr lang hatte sie sich darauf gefreut. Und nun war sie an der Reihe. Sie setzte sich in Bewegung und lief, fort von der Brunftkuhle, durch den Wald, sodass die Büsche sie streiften. Ein Jahr lang hatte sie gehofft, doch nun, da sie ihn so groß, so kraftvoll und so fremd kennen gelernt hatte, zitterte sie vor Furcht. Würde er ihr wehtun? Ja. Gewiss. Und dennoch musste es sein. Sie hatte ein seltsames Gefühl, als ob all die Wärme und das Blut in ihrem Körper nach hinten strömten, die Wirbelsäule entlang zu ihrem Spiegel, der beim Laufen erbebte. Er kam näher. Er war dicht hinter ihr. Sie konnte ihn hören und spüren. Und plötzlich roch sie ihn auch. Unwillkürlich blieb sie stehen.
Er war da. Er hatte sie eingeholt. Sie bemerkte, dass er sie bestieg. Fast gaben ihre Knie unter seinem Gewicht nach, und es kostete sie Mühe, sich aufrecht zu halten. Sein Geruch hüllte sie ganz ein wie eine Wolke. Ihr Kopf kippte zurück. Sein Geweih ragte über ihr auf, schrecklich und Ehrfurcht gebietend. Und dann spürte sie, wie er in sie eindrang. Ein stechender, entsetzlicher Schmerz, gefolgt von einer drängenden, gewaltigen Erfüllung, die wie eine Flutwelle über sie hinwegbrandete.
Adela gefiel es in Winchester. Die Ortschaft befand sich inmitten der kahlen Kreidefelsen nördlich des großen Meeresarms Solent und hatte den Römern früher als Provinzstadt gedient. Danach war sie viele Jahrhunderte lang Residenz der westsächsischen Könige gewesen, die schließlich über ganz England regierten. Und obwohl seit einigen Jahrzehnten London die Hauptstadt des Königreiches war, bewahrte man den Staatsschatz weiter in Winchester auf. Hin und wieder hielt der König dort in seinem Palast Hof.
Von Winchester bis zum New Forest war es nicht weit. Die Straße, die nach Nordwesten führte, brachte einen nach etwa fünfzehn Kilometern zum Städtchen Romsey, wo es ein Nonnenkloster gab.
Nach weiteren sieben Kilometern erreichte man den New Forest. Doch wie Adela rasch herausfand, hätte er genauso gut am anderen Ende der Welt liegen können.
Winchester, das, umgeben von mit Eichen und Buchen bewaldeten Hügeln, auf einer Anhöhe oberhalb eines Flusses stand, verfügte über eine Stadtmauer mit vier alten Toren. Die Stadt hatte eine Fläche von etwa sechsundfünfzig Hektar. An ihrem südlichen Ende erhoben sich eine prächtige neue normannische Kathedrale, der Palast des Bischofs,
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