Der Wald der Könige
Der Morgen graute. Auf dem Boden lag leichter Reif. Rings um die Brunftkuhle drängte sich das Kahlwild, der Boden war zernarbt von Trittsiegeln, wie man die Abdrücke der Schalen nennt. Etwa acht oder neun Hirschkühe warteten darauf, beschlagen zu werden. Einige liefen rufend hin und her. Spannung lag in der Luft. Auch die weißliche Hirschkuh war dabei. Sie verharrte geduldig.
Der Hirsch war stolz auf sein prächtiges Geweih. Die schweren, schimmernden Schaufeln hatten eine Auslage von fast einem halben Meter und boten einen Furcht erregenden Anblick. Seit August war der Bast abgefegt, das Geweih voll ausgewachsen. Viele Tage lang hatte der Hirsch das neue Geweih an kleinen Bäumen und Schösslingen gerieben, sodass Schrammen auf der Rinde zurückblieben. Es war ein angenehmes Gefühl gewesen, als sich die kräftigen Zweige unter seinem Gewicht bogen, und der Hirsch hatte gespürt, dass seine Kräfte wuchsen. Dieses Reiben erfüllte einen doppelten Zweck. Denn es wurde dadurch nicht nur der Bast abgestreift, sondern das cremeweiße Geweih zusätzlich mit einer Schicht überzogen und zu einem schimmernden Braun gehärtet.
Im September wurde der Hirsch unruhig. Sein Hals schwoll an. Sein Adamsapfel vergrößerte sich. Und ein prickelndes Gefühl der Macht schien seinen ganzen Körper, vom Spiegel bis hin zu dem breiter gewordenen Widerrist, zu durchpulsen. Er begann, herumzustolzieren und mit den Hufen zu stampfen, und er hatte den Drang, sich zu bewegen, um seine Kraft zu erproben. Nachts streifte er allein durch die Wälder und wanderte umher wie ein Ritter auf der Suche nach einem Abenteuer. Nach einer Weile näherte er sich immer mehr dem Teil des New Forest, wo er im vergangenen Jahr die weißliche Hirschkuh gesehen hatte. Vor der Paarung verlassen Hirsche instinktiv ihr eigenes Revier, um Inzucht zu vermeiden. Ende September war der Hirsch bereit, seine Brunftkuhle zu markieren. Doch davor musste noch eine alte Zeremonie stattfinden.
Für gewöhnlich übernimmt der Rothirschbulle einige Tage nach der Tag-und-Nacht-Gleiche die Führung über ein Rudel von Kühen, die dann seinen Harem bilden. Dann erhebt er sein mächtiges Haupt und stößt einen durchdringenden Ruf, ein paar Töne höher als das Brüllen von Vieh, aus, der bei Dämmerung über die Heide dröhnt.
Es vergehen viele Tage, bis sich in den Wäldern der ganz anders klingende Ruf des Damhirschbocks mit den herbstlichen Geräuschen mischt.
Die Brunftkuhle des Bocks war nicht die wichtigste, denn die waren von älteren und mächtigeren Böcken besetzt. Es war seine erste Brunft. Die Brunftkuhle hatte eine Länge von etwa sechzig und eine Breite von vierzig Metern. Tagelang hatte er sie sorgfältig vorbereitet. Zuerst hatte er mit Hilfe seines Geweihs sämtliche Schösslinge und das Gebüsch rings um die Brunftkuhle beseitigt. Dabei hatte sich seine Vorderaugendrüse entleert und mit ihrem starken Geruch sein Territorium markiert. Auch die Bäume ringsherum wurden gekennzeichnet. Als der Zeitpunkt näher rückte, hatte er mit seinen Vorderläufen, wo sich ebenfalls Drüsen befanden, den Boden bearbeitet und ihn sogar hie und da mit dem Geweih aufgewühlt. Dann nässte er in die Furchen und wälzte sich in der feuchten Erde. So erzeugte er den durchdringenden Geruch des brunftigen Bockes, der die Kühe anzieht. Denn anders als beim Rothirsch suchen beim Damhirsch die Weibchen die Männchen auf.
Nun war der hübsche junge Bock bereit, seine Brunftkuhle gegen alle Herausforderer zu verteidigen, so als sollte hier, mitten im Wald, ein Ritterturnier ausgetragen werden. Viele Tage lang würde er Wache halten, ohne zu fressen. Mit der Zeit würde seine Aufmerksamkeit nachlassen, und irgendwann würde er entkräftet sein. Deshalb bewachten ihn die zusehenden Weibchen, die um die Brunftkuhle herum patrouillierten, Ausschau hielten und lauschten. Und die ganze Natur beteiligte sich an dem Treiben. Vögel warnten mit ihrem Gezwitscher vor drohender Gefahr, und selbst die wilden Ponys, die für gewöhnlich keinen Laut von sich gaben, wieherten laut, wenn sich menschliche Eindringlinge den getupften Tieren näherten, die sich ihrer geheimen Zeremonie hingaben.
Schon seit Stunden lief der Bock in seiner Brunftkuhle auf und ab, deren Boden inzwischen von niedergetrampeltem Gras und zerdrückten Farnen und trockenen, nussbraunen Eicheln bedeckt war. Außer den Kühen sahen auch noch zwei Spießer und ein Gabler zu, der so tat, als wolle er sich am liebsten auch
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