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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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sind, ist es schwierig, sämtliche Zweifel auszuräumen. Schließlich könnte…«
    Entgeistert und gleichzeitig neugierig sah er sie an. Louisa war nicht dumm, und er fragte sich, was sie mit diesem Wink wohl gemeint haben könnte.
    »Ich will Ihnen etwas anvertrauen, Mr. Martell, wenn Sie versprechen, es für sich zu behalten.«
    »Gut.« Er überlegte. »Ich werde schweigen.«
    »Es gibt da etwas, von dem meine Cousine vermutlich selbst nichts ahnt. Ich denke, Sie wissen, dass mein Vater und ihre Mutter Geschwister waren.«
    »Ja.«
    »Doch das stimmt nicht ganz. Sie war seine Halbschwester. Und ihre Mutter… nun, die zweite Frau meines Großvaters stammte aus anderen gesellschaftlichen Kreisen. Sie war eine Miss Seagull. Die Seagulls sind eine Familie von niedrigstem Stand: Matrosen, Wirte, Schmuggler. Und damals…« Sie verzog das Gesicht. »Besser, man redet nicht darüber.«
    »Ich verstehe.«
    »Und deshalb fragen wir uns vielleicht, wir glauben… wir können nicht sicher sein…« Sie lächelte entschuldigend. Mr. Martell starrte sie entgeistert an.
    Ihm war sonnenklar, dass sie sich selbst nicht bewusst war, was sie mit ihrer kleinen Böswilligkeit, ihrer Beichte alles anrichten konnte. »Ich freue mich, dass Sie sich mir anvertraut haben, Miss Totton«, erwiderte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Und im selben Augenblick fasste er den Entschluss, sofort am nächsten Tag bei Morgengrauen nach Bath zu fahren.
     
     
    Adelaide schüttelte den Kopf. Seit einer Woche weilte sie nun schon in Bath, ohne etwas bewirkt zu haben. Oft drohten ihre Kräfte zu erlahmen, und sie spielte schon mit dem Gedanken, nach Hause zurückzukehren, da sie es nicht mehr ertragen konnte. Allerdings war sie nun schon so lange Hüterin der Familienehre und hatte zuerst für ihre Mutter und später für ihren Bruder und für Fanny gesorgt – also kam es überhaupt nicht in Frage, dass sie jetzt aufgab. Schließlich ging ihr der gute Ruf des Hauses Albion über alles, und deshalb wäre es ihr auch unmöglich gewesen, ihre Nichte im Stich zu lassen.
    Allmählich jedoch war sie mit ihrem Latein am Ende. »Es wird dir ergehen wie Alice!«, rief sie erbittert aus. »Sie hat sich nicht verteidigt und ist vor dem Richter eingeschlafen; mit keinem Wort hat sie sich gewehrt. Willst du etwa auch hingerichtet werden? Soll die Familie Albion denn aussterben?«
    Aber Fanny schwieg nur.
    »Können Sie nicht etwas tun, um sie zu überzeugen«, wandte sich die alte Dame Hilfe suchend an Mrs. Pride.
    Seit einer Woche begleitete Mrs. Pride Tante Adelaide nun schon ins Gefängnis, beobachtete still das Treiben im Hause Grockleton und bemühte sich, die anderen so gut wie möglich zu trösten. Außerdem hatte sie Fanny eingehend beobachtet und ihre Schlüsse daraus gezogen. Nun sprach sie ihren Schützling in freundlichem, aber strengem Ton an.
    »Ich kenne Sie nun schon seit Ihrer Geburt, Miss Fanny«, sagte sie. »Ich habe Sie gewissermaßen großgezogen, und Sie waren immer ein mutiges und vernünftiges Mädchen. Ihre Lage ist ernst.« Sie sah Fanny in die Augen. »Sie müssen sich retten. Etwas anderes bleibt Ihnen nicht übrig, wenn Sie nicht untergehen wollen.«
    »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, meinte Fanny.
    »Sie müssen aber«, wiederholte Mrs. Pride.
    »Du musst kämpfen, Fanny!«, rief ihre Tante. »Begreifst du denn nicht? Du musst kämpfen und darfst nie aufgeben.« Sie betrachtete Fanny und wandte sich dann an Mrs. Pride. »Ich glaube, wir sollten jetzt gehen.« Mühsam erhob sie sich.
    In der Tür sah Mrs. Pride die Gefangene noch einmal an, und ihre Blicke trafen sich. Die Botschaft der Haushälterin war unmissverständlich: »Rette dich.«
    Nachdem sie fort waren, holte Fanny den Brief des Vikars heraus und las ihn noch einmal. Sie hoffte, dass er ihr Kraft geben würde, doch es nützte nichts, und sie steckte ihn wieder weg. Dann schloss sie die Augen, aber sie konnte nicht schlafen.
    Sich retten. Aber wie denn? Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, rollte sie sich zusammen wie ein ungeborenes Kind und blieb lange Zeit in dieser Haltung liegen. Hin und wieder saß sie da, starrte mit leerem Blick geradeaus und war unfähig, sich zu regen. Fanny war sicher, dass sie verloren war. Ihr Leben war von Mauern umgeben, so kahl und unnachgiebig wie die eines Gefängnisses. Es gab kein Entrinnen, keinen Ausweg, keine Lösung.
    Und dennoch sehnte sie sich danach zu fliehen, nach jemandem, der kam und sie befreite. Tante

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