Der Wald der Könige
sie aus.
»Vielleicht«, entgegnete ihre Tante in scharfem Ton, der Fanny wie ein Pfeil ins Herz drang, »brauchst du deine Familie ja jetzt nicht mehr.«
»O doch, Tante Adelaide.« Sie drehte sich zu Martell um. »Bitte geh.«
Er sah zwischen den beiden Frauen hin und her. »Ich komme wieder«, sagte er.
Nachdem er fort war, herrschte Stille.
»Ich denke, du bist mir eine Erklärung schuldig«, meinte Tante Adelaide kalt und abweisend.
Fanny tat ihr Bestes. Sie beichtete ihrer Tante, dass sie Gefühle für Martell entwickelt habe, ohne seine Herkunft zu kennen. »Wahrscheinlich wusste er auch nichts von meiner«, fügte sie hinzu und schilderte, wie sie die Hintergründe entdeckt hatte und ihm von da an aus dem Weg gegangen war. Sie schwor, sie habe ihn nicht wieder gesehen, bis er überraschend in ihrer Zelle aufgetaucht sei.
»Du hast ihn geküsst.«
»Ich weiß. Er war so gut zu mir. Ich habe mich hinreißen lassen.«
»Hinreißen«, höhnte ihre Tante. »Von einem Penruddock.«
»Es wird nie wieder vorkommen.«
»Und wenn er sich nicht abweisen lässt?«
»Dann werde ich ihn nicht empfangen.«
Als ihre Tante sie argwöhnisch musterte, schüttelte Fanny den Kopf.
»Fanny.« Tante Adelaide war nun nicht mehr zornig, sondern sprach ganz ruhig. »Ich fürchte, unsere Wege werden sich trennen müssen, wenn du darauf bestehst, weiter etwas mit diesem Mann zu tun zu haben. Du gehörst dann nicht mehr zu uns.«
»Nein, Tante Adelaide, bitte verlass mich nicht. Ich verspreche dir, die Verbindung mit ihm abzubrechen.«
An diesem Abend erhielt Fanny noch einmal unerwarteten Besuch. Es war Mrs. Pride. Die gute Frau blieb fast eine Stunde lang bei ihr und erfuhr, was genau zwischen ihrem Schützling und Mr. Martell vorgefallen war. Schließlich musste sie erkennen, dass Fanny diesen Mann von ganzem Herzen liebte.
»Er ist gekommen, um mich zu retten«, klagte das Mädchen. »Doch das ist unmöglich. Ich weiß, dass es keinen Sinn hat. Alles ist sinnlos.« Mrs. Pride nahm sie zwar in die Arme, ließ sie sich ausweinen und tröstete sie so gut sie konnte, doch im Innersten ihres Herzens konnte sie nicht leugnen, dass Fanny die Wahrheit sagte. Solange der Geist von Alice Lisle in Haus Albion wohnt, dachte sie bedrückt, wird kein Penruddock über dessen Schwelle treten. So war es nun einmal. Der New Forest hatte ein langes Gedächtnis.
Als Mr. Martell am nächsten Morgen seine Aufwartung machte, wurde er auf Fannys Anweisung fortgeschickt. Dasselbe wiederholte sich am Nachmittag. Als er tags darauf einen Brief hinterlassen wollte, verweigerte man die Annahme.
Francis Albion hatte in der Vergangenheit so oft falschen Alarm geschlagen, dass Mr. Gilpin erst eine Nachricht an Adelaide schickte, als der Arzt ihm versicherte, der Greis läge tatsächlich im Sterben und habe nur noch wenige Tage zu leben.
Das Eintreffen des Briefes versetzte die alte Dame in helle Aufregung, da sie unbedingt zu ihrem Bruder zurückkehren, gleichzeitig aber Fanny nicht allein lassen wollte. Sie befürchtete, dass ihre Nichte erneut Besuche von Mr. Martell empfangen könnte, wenn sie kein wachsames Auge auf sie hatte. Doch als Fanny sie darauf hinwies, Mr. Martell habe schon seit drei Tagen nichts von sich hören lassen, und außerdem noch einmal schwor, sie werde ihn nicht wieder sehen, war die alte Dame ein wenig beruhigt.
»Wie könnte ich den Gedanken ertragen, dich, seinen einzigen Trost, in einer solchen Zeit von ihm fern gehalten zu haben?«, rief Fanny aus. »Fahr, ich flehe dich an, und sage ihm, wie sehr ich ihn liebe und dass ich im Geiste bei ihm bin, auch wenn ich dich nicht begleiten kann.«
Tante Adelaide konnte sich der Vernunft dieses Vorschlags nicht verschließen und stimmte zu. Allerdings durfte man nicht vergessen, dass in zehn Tagen der Prozess stattfinden sollte. Der beste Anwalt stand bereit, um Fanny zu verteidigen. Doch Fanny selbst verhielt sich immer noch schwankend. An manchen Tagen wirkte sie stark genug, um für ihre Rechte einzutreten, an anderen wiederum versank sie in Teilnahmslosigkeit. »Ich weiß nicht, welchen Eindruck sie vor Gericht erwecken und wie sie auf die ihr gestellten Fragen antworten wird«, musste der Anwalt einräumen.
»Ganz gleich, wie es um die Gesundheit meines Bruders steht«, versicherte ihm Adelaide, »ich bin rechtzeitig zum Prozess zurück. Bis dahin müssen wir unser Bestes tun. Vielleicht«, fügte sie hinzu, »bringe ich Mr. Gilpin mit.«
Nachdem
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