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Der Wald der Könige

Der Wald der Könige

Titel: Der Wald der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Adelaide war dazu nicht in der Lage. Nicht einmal Mrs. Pride. Alle verlangten von ihr, dass sie sich selbst half, obwohl sie doch von einem anderen Menschen gerettet und getröstet werden wollte. Aber von wem? Mr. Gilpins Gegenwart hätte sie möglicherweise aufgemuntert. Doch sie wusste, dass auch er nicht der Richtige war.
    Sie wünschte sich Vergebung. Wofür, konnte sie nicht sagen. Vielleicht dafür, dass sie überhaupt lebte. Sie sehnte sich danach, dass der Mann, den sie liebte, bei ihr war, sie in die Arme nahm und ihr verzieh.
    Dann würde sie die Kraft haben, sich allen Widrigkeiten zu stellen. Aber dieser Traum würde nie in Erfüllung gehen. Also blieb ihr nichts weiter übrig, als das Elend zu ertragen. Und deshalb schloss sie die Augen vor dem grellen, schmerzhaften Licht der Welt.
    Und so sah sie ihn nicht hereinkommen.
     
     
    Wie lange braucht ein Mann, um sich über seine Gefühle für eine Frau klar zu werden?
    Wyndham Martell betrachtete die bleiche Gestalt, die stumm in ihrer Zelle saß. Ein schwacher Sonnenstrahl fiel durchs Fenster auf ihr Gesicht und ließ es fast durchscheinend wirken. Nun wusste er, wie zart sie war; er hatte viel über sie erfahren, und in diesem Augenblick ahnte er, dass das Schicksal ihm bestimmt hatte, diese Frau zu lieben. Nach dieser Erkenntnis gab es – wie jedem, der schon einmal geliebt hat, klar ist – nichts mehr zu sagen. Im Bruchteil einer Sekunde entschied er über seine Zukunft.
    Als er eintrat, sah sie ihn entgeistert an. Ohne stehen zu bleiben, ging er auf sie zu, und als sie sich erheben wollte, nahm er sie in die Arme. »Ich bin hier, Fanny«, sagte er mit einem zärtlichen Lächeln. »Und ich werde dich nie wieder verlassen.«
    »Aber…« Sie runzelte die Stirn und verzog verzweifelt das Gesicht. »Du weißt doch gar nicht…«
    »Ich weiß alles.«
    »Du kannst nicht…«
    »Ich kenne sogar das dunkle Geheimnis deiner Großmutter Seagull und ihrer Vorfahren, mein Liebes.« Voller Zuneigung schüttelte er den Kopf. »Nichts spielt eine Rolle, solange wir nur beieinander sind.« Und bevor sie etwas erwidern konnte, drückte er sie an sich und küsste sie.
    Fanny zitterte am ganzen Leibe, klammerte sich an ihn und weinte Tränen, die nicht mehr versiegen wollten. Er versuchte nicht, sie zu trösten, sondern ließ sie gewähren, umarmte sie fest und murmelte Koseworte. Sie wussten nicht, wie lange sie so dagestanden hatten.
    Beide bemerkten sie nicht, dass Tante Adelaide zurückgekehrt war.
     
     
    Im ersten Moment begriff die alte Dame nicht, was da vor sich ging. Fanny lag in den Armen eines Fremden, der sein Gesicht abgewandt hatte. Wer er war oder warum Fanny sich so an ihn klammerte, konnte sie nicht sagen. Tante Adelaide musste sich auf Mrs. Prides Arm stützen. Es dauerte eine Weile, bis sie die Sprache wieder fand.
    »Fanny?«
    Die beiden jungen Leute fuhren auseinander. Dann drehte sich der Mann um und sah Tante Adelaide an. Die alte Dame riss entsetzt die Augen auf und erbleichte.
    Zunächst glaubte sie, Oberst Penruddock vor sich zu haben, der auf wundersame Weise dem Gemälde entstiegen und wieder zum Leben erwacht war. Dann jedoch wurde ihr anscheinend klar, dass es sich um Mr. Martell handeln musste. Starr vor Schreck blickte sie ihn an und zischte nur ein einziges Wort: »Sie!«
    Rasch hatte Mr. Martell sich gefasst. »Miss Albion, ich bin Wyndham Martell.«
    Doch Tante Adelaide hatte ihn entweder nicht gehört, oder sie zog es vor, nicht weiter darauf einzugehen. Ihr kreideweißes Gesicht war vor Wut und Hass verzerrt, wie Fanny es noch nie bei ihr erlebt hatte. Als sie weitersprach, triefte ihr Ton vor Verachtung, als hätte sie einen gemeinen Verbrecher vor sich. »Wie können Sie es wagen, hierher zu kommen, Sie Schurke! Hinaus!«
    »Ich bin mir dessen bewusst, Madam, dass es in der Vergangenheit zu Zerwürfnissen zwischen Ihrer Familie und der meiner Mutter gekommen ist.«
    »Verschwinden Sie, Sir.«
    »Ich halte es für überflüssig…«
    »Raus.« Sie wandte sich an Fanny, als wäre Mr. Martell Luft für sie. »Was soll das heißen? Was hast du mit diesem Penruddock zu schaffen?«
    Es war nicht nur ihre eiskalte, zornige Stimme, die Fanny bis ins Mark traf, sondern auch die abgrundtiefe Enttäuschung, die sie im Blick der alten Dame sah.
    Mein ganzes Leben lang war sie immer für mich da, dachte Fanny. Sie hat mir vertraut, und nun habe ich ihr etwas so Schreckliches angetan. Ich habe sie verraten. »Oh, Tante Adelaide!«, rief

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