Der Wald der Könige
kleinkriegen, selbst wenn es sich dabei um Mitglieder des Oberhauses handelte. Also straffte der Oberst die Schultern und schritt tapfer aus.
Sein Begleiter war etwa zehn Jahre jünger als er und hatte sich auch eigens für diesen Anlass herausgeputzt. Er trug seinen Sonntagsanzug mit einer etwas formlosen Jacke aus grobem Stoff. Auf seinem Kopf saß ein breitkrempiger Bauernhut. Da der Oberst es ihm streng eingeschärft hatte, waren seine Stiefel blitzsauber, obwohl er wie die meisten einfachen Leute nicht verstand, warum Adelige und Militärs ein solches Theater um geputzte Stiefel veranstalteten, die so und so bald wieder staubig sein würden. Sein Bart war ordentlich gekämmt, und seine Frau hatte seine Jacke bis kurz vor Eintreffen des Oberst mit der Bürste bearbeitet. Nun schlenderte Mr. Pride, der Kleinbauer aus Oakley, fröhlich und beschwingt neben dem Oberst her und schien sich nicht im Mindesten vor dem bevorstehenden Ereignis zu fürchten.
Pride kannte Albion und dessen Eltern schon sein ganzes Leben. Der Oberst war nicht nur sein Grundherr, sondern auch ein Mann, dem man vertrauen konnte. Als der Oberst vor ein paar Jahren auf dem Dorfanger von Oakley eine Kricketgemeinschaft gegründet hatte, zeigte sich bald, dass Pride ein geschickter Werfer war. Durch den Sport waren die beiden Männer einander näher gekommen, und soweit es die Standesunterschiede gestatteten, konnte man ihr Verhältnis beinahe als freundschaftlich bezeichnen.
Pride hatte nur einen Grund zur Klage: seinen Sohn George, mit dem er in den letzten Jahren kaum ein Wort gewechselt hatte. Doch vor drei Tagen war der Junge plötzlich erschienen und hatte ihn angefleht, nicht nach London zu fahren. Er befürchtete, seine Stellung zu verlieren. Prides Miene verfinsterte sich bei diesem Gedanken.
»Dann hättest du die Arbeit bei Cumberbatch eben nicht annehmen dürfen«, hatte er kühl erwidert und den Oberst trotzdem begleitet.
Bis jetzt war er noch nie in London gewesen, hatte aber viel darüber gelesen. Wie sein Vater Andrew hatte er Mr. Gilpins kleine Schule besucht und verschlang jede Zeitung, die er in die Finger bekam. Nun sollte er zum ersten Mal in die Hauptstadt reisen. Das war ein großes Abenteuer. Dass er dort einem Ausschuss von Pairs gegenüberstehen würde, bereitete ihm kein Magendrücken. Wahrscheinlich würden sie sich nicht allzu sehr von den adeligen Forstaufsehern im New Forest unterscheiden. Ganz gleich, ob sie nun Wiedergeburten des Teufels oder ein Chor von Erzengeln waren, er war ein Pride aus dem New Forest.
Der Oberst hingegen traf feinere Unterscheidungen und war deshalb erleichtert, als er auf dem Bahnsteig einen weiteren Herrn mit Zylinder und buschigem braunem Bart entdeckte, der vor dem Wagon der ersten Klasse wartete. Dieser Mann, Eigentümer des großen Gutes von Beaulieu, war zwar nur halb so alt wie Albion, allerdings der Sohn eines Herzogs, was nicht zu verachten war, wenn man im viktorianischen England vor das Oberhaus zitiert wurde.
»Mein lieber Oberst.« Der Aristokrat zog den Hut und nickte sogar Pride kurz zu.
»Mein guter Lord Henry.«
»Ich glaube, wir sind hier« – Lord Henry lächelte die beiden an –, »um den New Forest zu retten.«
Nicht nur Lord Henrys gehobene Stellung war eine Hilfe, sondern auch der Umstand, dass er als Mitglied des Parlaments im Unterhaus saß und in Westminster großen Einfluss genoss.
Albion fand, dass sich ihre Situation gewissermaßen ähnelte. Nach Wyndham Martells Tod waren seine Güter zwischen seinen drei Söhnen aufgeteilt worden. Die Ländereien in Dorset fielen an den ältesten, die in Kent an den zweiten, und das kleinste Gut im New Forest, das Fanny gehört hatte, an den jüngsten. Godwin hatte den Namen seiner Mutter angenommen, da er dies bei einem Erben des alten Gutes Albion für passender hielt. Die Besitzungen des Herzogs waren allerdings noch um einiges größer als die von Wyndham Martell. Er war ein direkter Abkömmling des unglücklichen Monmouth und somit mit den Stuart-Königen verwandt. Außerdem entstammte er der Tudorfamilie Montagu, weshalb der Großteil seiner Vorfahren zur schottischen Aristokratie gehörte. Seine Ländereien nördlich und südlich der Grenze erstreckten sich über zehntausende von Hektar. Deshalb war es eine Kleinigkeit für ihn gewesen, seinem zweiten Sohn zur Hochzeit das dreitausendzweihundert Hektar große Gut Beaulieu zu schenken. Aber für den New Forest hatte es große Bedeutung. Der Herzog und seine
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