Der Wald der Könige
Familie hatten Beaulieu zwar immer durch fähige Verwalter leiten lassen, doch es war etwas ganz anderes, wenn nun der Besitzer selbst dort lebte. Lord Henry – wie er als Sohn eines Herzogs der Höflichkeit halber angesprochen wurde – hatte nämlich Pläne, die verfallene Abtei als Wohnhaus für seine Familie wieder aufzubauen, und wollte auch sonst einiges verändern.
Es war Zeit zum Einsteigen. Der Oberst hatte Pride eine Fahrkarte für die zweite Klasse besorgt. Er und Lord Henry machten sich gerade daran, den Wagon zu betreten, als ein Ruf vom Bahnsteig her ihn zusammenfahren ließ. Beim Umdrehen hätte er beinahe das Gleichgewicht verloren.
»Vorsicht«, meinte die Stimme vergnügt. »Fast wären Sie gestürzt.«
Der Mann, der locker auf sie zugeschritten kam, war etwa Mitte zwanzig. Er trug eine weite Samtjacke und einen breitkrempigen Filzhut. Die Kleidung und der Dunne Ziegenbart und die schulterlangen blonden Locken wiesen ihn als Künstler aus.
»Wollen Sie nach London?«, fragte er liebenswürdig. An Stelle einer Antwort schob der Oberst das Kinn vor und ballte die Fäuste, als sei er im Begriff, einen Russen mit seinem Säbel zu durchbohren. »Ich habe vor, mir dort ein paar Bilder anzusehen«, fuhr der junge Mann fort und blickte dann Lord Henry an. »Kennen wir uns?«
Der Oberst gebot dem Wortschwall des jungen Mannes erbost Einhalt. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Sir!«, polterte er. »Guten Tag!« Mit diesen Worten stürmte er zornig in den Wagen.
»Wie es Ihnen beliebt«, entgegnete der junge Mann fröhlich und begab sich zur nächsten Wagontür. Die Lokomotive, die offenbar auf Seiten des Oberst stand, stieß in diesem Moment eine gewaltige Dampfwolke aus.
Erst als der Zug ratternd und keuchend die Vororte von Southampton passierte, wagte Lord Henry zu fragen, wer denn der junge Mann gewesen sei.
Der bedauernswerte Oberst Albion schlug die Hände vors Gesicht und murmelte mit zusammengebissenen Zähnen: »Das, Sir, war mein Schwiegersohn.«
»Ah.« Lord Henry hakte nicht weiter nach. Er hatte von Minimus Furzey gehört.
Der Sitzungssaal war überfüllt. Cumberbatch und seine Bundesgenossen, die Landbesitzer aus dem New Forest, waren alle gekommen. Hinter dem langen Tisch an der Stirnseite des Raumes thronten zehn Männer, jeder von ihnen Jurist und Mitglied des Oberhauses. Ihren Blicken war deutlich zu entnehmen, welche Absichten sie verfolgten.
Oberst Albion war sehr stolz darauf, einer der beiden ältesten Familien Südenglands zu entstammen. Auch wenn er deshalb nicht hochmütig wurde, verschaffte es ihm dennoch eine gewisse Befriedigung, dass nicht einmal die Mächtigsten im Lande ihm den Status eines alteingesessenen Gentleman streitig machen konnten. Außerdem hielt er sich etwas darauf zugute, dass er den Rang eines Hauptmanns zwar gekauft, aber allein aus eigener Kraft zum Oberst aufgestiegen war. Seine gesellschaftliche Stellung innerhalb des Adels im New Forest war felsenfest und unerschütterlich.
Allerdings gehörten die Adeligen, die ihm nun gegenübersaßen, ganz anderen Kreisen an. Ihre Familien mochten nicht so alt sein, doch das kümmerte sie nicht. Denn sie besaßen gewaltige Güter und waren Mitglieder der privilegierten Schicht, die das Land regierte. Und obwohl sie zu höflich waren, es dem Oberst ins Gesicht zu sagen, sahen sie in ihm nur einen ungehobelten Provinzler.
»Oberst Albion, Sie sind doch Kommissionär des Gesetzes über die Beseitigung der Hirsche.«
»Das bin ich.« Die Durchführung des Gesetzes über die Beseitigung der Hirsche wurde von dreizehn Kommissionären überwacht, die vor allem weitere Einhegungen genehmigen mussten. Drei von ihnen arbeiteten wie Cumberbatch für die Waldbehörde. Vier waren von der Grafschaft gewählte Forstaufseher, die jedoch verglichen mit ihrer Stellung im Mittelalter nur noch über einen Bruchteil ihrer früheren Macht verfügten. Bei den restlichen handelte es sich um niedere Adelige oder Freibauern, die zur Nutzung des Waldes berechtigt waren. Albion, der ausgedehnte Rechte besaß und viele Pächter hatte, eignete sich also vorzüglich für den Posten einen Kommissionärs.
»Und warum, Oberst, herrscht Ihrer Ansicht nach ein solcher Widerstand gegen die Krone?«
Widerstand gab es in der Tat. Zäune wurden zerstört und junge Anpflanzungen abgebrannt. So machten die einfachen Leute im New Forest ihrem Ärger Luft, und Albion hatte Verständnis dafür. »Die Menschen wehren sich gegen die
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