Der Wald des Vergessens
Abstand, den er zum geringsten Anflug von paranoidem Haß hielt.
Als er seine Polizeimarke vorwies, war der Major endlich überzeugt gewesen, daß Pascoe weder ein gemeingefährlicher Verrückter noch ein bombenwerfender Terrorist war.
Während Pascoe sich seinen Tee zu Gemüte führte, blätterte der Major, dessen Geschicklichkeit angesichts seiner Einarmigkeit erstaunlich war, ein paar ledergebundene Bände durch.
»Merkwürdig«, sagte er. »Pascoe kommt mir eindeutig bekannt vor, aber es ist kein Eintrag von einem Unteroffizier dieses Namens zu finden, der 1917 in Ypern gefallen ist. Könnte natürlich seinen Streifen verloren haben. Hier gibt es den Soldaten Stephen Pascoe, der verwundet wurde … könnte da eine Verbindung bestehen?«
»Das bezweifle ich«, sagte Pascoe. »Es war ja kein Pascoe, oder?«
Das Einauge warf ihm einen begriffsstutzigen Blick zu, dann verzog sich seine Oberlippe zuckend zu einer Was-bin-ich-blöd-Grimasse, die zur Folge hatte, daß sein Schnauzer eine Skischanze bildete, und er sagte: »Tut mir leid. Mein Gehirn tropft mir durch die leere Augenhöhle. Sie haben ja völlig recht, Pascoe ist der Name, den Ihre Großmutter mit der Heirat annahm. Wie war ihr Mädchenname?«
Nach einigem Nachdenken sagte Pascoe: »Clark, glaube ich.«
Studholme verzog das Gesicht. »An Clarks haben wir hier eine ganze Auswahl«, sagte er und klopfte auf die Lederbände. »Mit ›e‹ am Ende oder ohne? Kennen Sie den Anfangsbuchstaben des Vornamens?«
»Tut mir leid«, sagte Pascoe. »Ich weiß nur, daß es ein Foto von ihm gibt, auf dem er den Streifen eines Obergefreiten trägt. Das Datum ist 1914, und daneben steht ›Umgekommen in Ypern 1917‹, vermutlich von meiner Großmutter geschrieben. Das hat mich etwas durcheinandergebracht, denn ich war davon ausgegangen, daß die große Schlacht früher stattfand.«
»Ach ja? Wenn sich damit das Wissen eines gebildeten Menschen erschöpft, so stellen Sie sich mal die Unwissenheit der Mehrzahl unserer Mitbürger vor!«
Entrüstet wollte Pascoe sich wehren. Studholme mit seinem borstigen Schnauzer, seiner abgehackten Sprechweise und der deftigen Tweedkleidung kam wie der Prototyp des britischen Offiziers daher, den liberal Gesinnte traditionell als geistig minderbemittelten snobistischen Banausen beschrieben. Also durchaus nicht als jemand, von dem sich ein (fast noch) junger Akademiker, der den Guardian las, Radio 3 nicht nur verstand, sondern manchmal sogar hörte, die Leviten lesen lassen sollte.
Andererseits war es für den Beamten einer Institution, die in absehbarer Zeit eine radikale Umstrukturierung über sich würde ergehen lassen müssen, nicht nur unhöflich, sondern auch unklug, einen Kriegshelden gegen sich aufzubringen.
»Ich weiß nur, was die meisten über den Großen Krieg wissen, die ab und an ein Buch öffnen«, sagte er vorsichtig. »Daß er, selbst wenn man streng militärische Maßstäbe anlegt, eine nie dagewesene und nie übertroffene Sinnlosigkeit war.«
Schiete, das war nun doch stärker herausgekommen als beabsichtigt.
»Bravo«, sagte Studholme überraschend. »Das ist immerhin ein Anfang. Lassen Sie mich mit ein paar Einzelheiten nachhelfen. Die erste Schlacht von Ypern fand im Oktober/November 1914 statt. Die britischen Verluste beliefen sich auf etwa fünfzigtausend Mann, zu denen der größere Teil der regulären Truppe von vor dem Krieg gehörte. Die erste Schlacht von Ypern war das Ende von allem, was den Namen offene Kriegsführung verdient. Während des Winters konzentrierten sich beide Seiten auf die Verstärkung ihrer Verteidigungsanlagen, und von da ab wurde bis 1918 ein Stellungskrieg von der Nordsee bis an die Schweizer Grenze geführt.«
»Warum also war Ypern so wichtig?«
»Es lag mitten in einem Vorsprung, einer beträchtlichen Ausstülpung im Verlauf der Frontlinie, von unseren Leuten der ›Salient‹ oder der Ypernbogen genannt. Ein Durchbruch hätte die Alliierten in die Lage versetzt, den Deutschen von beiden Seiten auf den Pelz zu rücken. Der Nachteil war natürlich, daß der Feind bei einer solchen Ausstülpung von drei Seiten Granaten werfen kann. Dort eingesetzt zu werden, war nicht etwas, worauf sich unsere Jungs freuten, noch nicht einmal vor Passchendaele. Mein Vater hat es geschafft, sowohl an der zweiten wie auch der dritten Schlacht bei Ypern teilzunehmen. Er sagte wiederholt, der Ypernbogen sei immer etwas Besonderes gewesen, selbst wenn es dort relativ friedlich war. Die Landschaft
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