Der Wald des Vergessens
war wohl noch deprimierender, der Gestank des Schlamms noch ekelerregender, und der Himmel hing noch tiefer herab. Beim Verlassen Yperns durch das Menin-Tor habe man das Gefühl gehabt, daß dort ein Schild mit der Inschrift hätte hängen sollen: ›Die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren.‹«
»Klingt, als würde man an einem Montagmorgen ins Präsidium kommen«, sagte Peter Pascoe mit aufgesetzter Fröhlichkeit.
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Studholme ernst. »Mein Vater sagte, der Dienst dort habe die menschliche Natur verändert. Man habe sich zu einer Art Untermenschlichkeit zurückentwickelt, sei zum fehlenden Glied zwischen dem Affen und
homo sapiens
geworden. Er sprach immer vom
homo saliens.
Ich glaube nicht, daß es ein Witz sein sollte.«
Pascoe trank seinen Tee. Er brauchte etwas Warmes. Es war sehr still hier drin. Der Parkplatz des Supermarkts schien tausend Kilometer weit entfernt zu sein.
Er sagte: »Und was ist also in der zweiten Schlacht bei Ypern passiert?«
»Frühling 1915. Die Deutschen waren entschlossen, die Linie zu begradigen. Setzten zum ersten Mal Giftgas ein. Gewannen ein wenig Terrain, aber der Bogen blieb bestehen. Die Zahl unserer Opfer belief sich auf etwa 60 000, einschließlich einem General, Horace Smith-Dorrien.«
»Das wird in der Heimat aber echt Besorgnis ausgelöst haben«, sagte Peter Pascoe ungewollt mit fast höhnischem Tonfall. »Ich meine, was sind ein paar Tausend toter Soldaten, aber ein toter General …«
»Nicht tot«, sagte Studholme. »Strafversetzt. Das heißt, gefeuert. Schreckliches Vergehen. Ein fähiger Mann zu sein.«
»Wie bitte?« fragte Peter, der seinen Ohren nicht traute.
»Er war tatsächlich mittendrin gewesen und traf Entscheidungen, die auf der Realität fußten. Außerdem war er so dumm, zu Oberbefehlshaber French zu sagen, daß zu viele Mann bei sinnlosen Frontalangriffen fielen. Die laut geäußerten Zweifel hoher Tiere, die uns überliefert sind, lassen sich an einer Hand abzählen, das kann ich Ihnen sagen.«
»Kein Wunder, wenn man dafür den Hut nehmen mußte.«
»In der Tat. Nun springen wir zwei Jahre weiter, nach 1917. Die dritte Schlacht bei Ypern, die Schlacht, an der Ihr Urgroßvater teilgenommen hat. Sie kennen sie wahrscheinlich unter dem Namen Passchendaele.«
»Gütiger Gott, ja. Der Schlamm.«
»Korrekt. Jeder erinnert sich an den Schlamm. Ein kaum zu überbietender Alptraum, langsam in einem Dreck zu ertrinken, der einen nicht wieder losläßt. Fast eine Metapher für die gesamte Kriegsführung.«
Pascoe sah Studholme mit großen Augen an.
»Sie klingen nicht gerade so, als gehörten Sie zum Fan-Club von Douglas Haig, Major.«
Studholmes Grunzen klang wie ein Gewehrschuß.
Er sagte: »Als man Sir John French gegen Ende 1915 endlich losgeworden war, sah es danach aus, als sei sein wesentlicher Fehler gewesen, seine Leute nicht schnell genug über die Klinge springen zu lassen. Man suchte also nach einem General, der sich seiner Aufgabe schneller entledigen würde. French hatte Zehntausende auf dem Gewissen, aber Haig hatte schon bald Hunderttausende zu verantworten, fast eine halbe Million an der Somme und dann eine Viertelmillion bei Passchendaele. Die dritte Schlacht bei Ypern galt natürlich als Sieg. Man hatte sieben oder acht Kilometer Schlamm erobert. Man stelle sich eine Reihe Männer vor, je fünfundzwanzig nebeneinander, und das über jene zehn oder zwölf Kilometer, das waren die britischen Toten. Etwas anders als Agincourt, was?«
»Sagen Sie mir, Major«, fragte Peter Pascoe neugierig, »wie kommt es, daß Sie bei solchen Gefühlen ein Militärmuseum verwalten? Wie sind Sie überhaupt bei der Armee gelandet?«
Einen Moment befürchtete er, zu weit gegangen zu sein. Der Major betrachtete ihn noch einmal, das Auge glänzend wie ein Steinschloß. Dann nahm er einen Schluck Tee, wischte sich über den Schnauzer, lächelte schwach und entgegnete: »Und wie kommt es, daß ein helles Bürschchen wie Sie bei der Polizei gelandet ist? Waren es die Schmiergelder oder die Gelegenheiten, Verdächtige zu verdreschen, die Sie angelockt haben?«
»Touché«, erwiderte Peter Pascoe. »Und Entschuldigung für meine jugendliche Unverschämtheit.«
»Angenommen. Und nun antworte ich. Ich bin in die Armee eingetreten, weil vor Urzeiten, etwa um die Zeit von Waterloo herum, jemand auf die Idee kam, die Linie der Studholmes, aus der ich stamme, sei nur dazu gut, in Uniformen gesteckt und als
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