Der Wald des Vergessens
den Sinn, sie nicht in die Tat umzusetzen. Er hatte keine Ahnung, wieso er überhaupt auf den Gedanken gekommen war, nicht zu Cap zu gehen.
»Hallo«, sagte sie in der Tür. »Schön, daß du es geschafft hast.«
Er gab ihr keine Antwort, sondern nahm sie in den Arm und küßte sie.
»Vor dem Essen?« sagte sie atemlos, als sie sich endlich losgemacht hatte.
»Wenn du mir wieder das Toffeezeug auftischst, muß ich mir erst Appetit machen«, sagte er.
Hinterher machte er ihr das größte Kompliment, das in Yorkshire im Umlauf war.
»He, das war großartig«, sagte er.
»Ja, kann man wohl sagen. Schenk uns ein Glas ein. Auf der Anrichte steht Whisky.«
So konnte man das Zeug auch nennen. Es war eine Flasche mit demselben perforationsfreudigen Fusel, den er schon gestern probiert hatte. Wahrscheinlich ein Supermarktschnäppchen. Er würde vielleicht mal mit ihr darüber reden müssen, aber noch war die Zeit nicht reif. Es war möglich, sich einen guten Fick und ein vegetarisches Mittagessen zu gönnen und dabei beiläufig und unverbindlich zu bleiben, aber wenn man eine Frau darum bat, ihre Whiskymarke zu wechseln, meldete man eine langfristige Beziehung an.
Sie drückte auf einen Knopf an ihrem CD -Spieler, und ein Mann und eine Frau begannen zu singen. Sie klangen nicht glücklich. Für Dalziels Ohren nicht überraschend, denn ihre Worte klangen fremd, wahrscheinlich deutsch, und das war mit Singen so gut zu vereinbaren wie das Knabbern einer Selleriestange.
»Wird das unser Lied?« fragte er. »Ich stehe mehr auf der Grimethorpe Band, wenn sie ›Blaze Away‹ spielt!«
Lächelnd sagte sie: »Ich hätte mir denken können, daß du kein Anhänger postkoitaler
tristesse
bist. Ich suche uns etwas Lebhafteres.«
»Nein, laß es. Worum geht es überhaupt?«
»Ein Junge, der in den Krieg zieht, verabschiedet sich von seinem Mädchen und sagt ihr, wenn sie ihn sucht, ist er in dem Haus aus grünem Gras, wo die schönen Trompeten blasen.«
»Herr im Himmel«, sagte Dalziel. »Dein Junge ist in der Armee, hattest du gesagt? Ist er das hier?«
Er nickte in Richtung eines Fotos auf dem Kaminsims. Ein junger Offizier, elegant und mit Orden geschmückt, lächelte ihn an.
»Ja, das ist er. Er wurde einmal als vermißt gemeldet, man dachte, er sei gefallen.«
»Ach ja? Und hast du schöne Trompeten gehört?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
Sie sprach leise, ohne Drama, aber er spürte, daß es um etwas ging, das noch nicht für seine Ohren bestimmt war. Es hatte wohl den Stellenwert seiner Klage über den Whisky.
Schweigend hörten sie das Lied bis zum Ende. Er räumte ein, daß eine melancholische Kraft dahinterstecke, aber selbst in diesem Genre bevorzuge er etwas Eingängigeres, wie etwa ›Oh, wo, sag mir, wo ist mein Highland Laddie geblieben?‹. Das habe seine alte schottische Großmutter immer gesungen, wenn sie sich ein Schlückchen gegen die Kälte genehmigt hatte.
»Siehst du deinen Sohn oft? Du hast gesagt, du hast mit ihm zu Abend gegessen.«
»Hab ich das? Ach ja, das Alibi.« Sie lächelte. »Ja, wir treffen uns von Zeit zu Zeit.«
In letzter Zeit öfter als unmittelbar nach ihrer Fahnenflucht. Vielleicht war ihre Sicht der Dinge im allgemeinen etwas ausgeglichener geworden. Sie hatte auch den Verdacht, daß Piers, der Held, mitbekommen hatte, daß sein Vater ein ziemlicher Trottel war, auch wenn er das nie zugeben würde.
»Bei den Wyfies, oder wie sie nun heißen?«
»Yorkshire Fusiliers. Ja. Woher weißt du das?«
»Das Wappen an der Mütze«, sagte er und nickte wieder zum Foto hinüber. »Man hat die alte Rose mit den Lilien beibehalten. Hat er jemals einen Captain Sanderson erwähnt? Oder einen Feldwebel Patten?«
»Patten? War das nicht der Name des Wachmanns?«
»Richtig. Sanderson und er sind Teilhaber. Beide waren mal im Regiment deines Sohnes. Es wäre hilfreich, ein bißchen mehr über sie zu erfahren.«
»Warum denn das?«
»Einer meiner Leute hat das Gefühl, daß bei der Firma was faul ist«, sagte er.
»Einer deiner Leute? Das Gefühl?« sagte sie mit der leisen Verachtung eines Menschen, dessen Verständnis von Demokratie Untergebene noch nicht mit einbezog.
»Korrekt«, sagte Dalziel. »Einer meiner Leute. Und wenn er mir sagen würde, er hätte das Gefühl, Linford Christie hätte ein Holzbein, würde ich ihn unter die Lupe nehmen.«
»Und du möchtest, daß ich meinen Sohn aushorche, ob über die beiden Gerüchte im Umlauf sind, ist das richtig? Ich gehe davon aus,
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