Der Wald ist schweigen
danke Massa.« Manni wirft einen Zehneuroschein auf den Tisch und springt auf.
»Manni! Bitte! So kommen wir nicht weiter. Denk doch dran, was auf dem Spiel steht.«
»Für dich!«
»Für den Fall. Dieser Täter ist ungeheuer brutal. Was passiert, wenn er wieder zuschlägt?«
Er sieht sie an. »Genau deshalb brauche ich kein Lob, sondern Ergebnisse. Also sei so gut und mach dich morgen früh dünne und vergewissere dich, ob die Luft rein ist, bevor du danach auch nur einen Fuß in den Sonnenhof setzt. Und falls du was rausfindest …« Abrupt hält er inne und streift seine Fliegerseidenjacke über. »Na ja, du weißt schon. Ruf mich an.«
»Unser Deal steht also noch?«
Manni gibt ein knurrendes Geräusch von sich, das Judith als Zustimmung interpretiert.
***
Als Laura erwacht, ist es noch dunkel und Jey ist fort. Ihr Hals brennt wie Feuer, ihre Nase ist verstopft, der Kopf tut weh und die Augen, die ihr aus dem Spiegel über dem Waschbecken entgegenblicken, sind verschwollen und rot. Sie stellt sich unter die heiße Dusche und hofft, dass ihr davon warm wird. Vergebens. Sie zieht zwei Pullover und ihr Fleece, einen dicken Schal und zwei Paar Socken an. Danach ist ihr so schwindelig, dass sie sich eine Weile hinsetzen muss. Anandoham, anandoham, anandoham, leise wiederholt sie ihr Mantra, damit vielleicht doch endlich das passiert, was Heiner und Beate immer behaupten: dass es ihr hilft und Kraft gibt. Denn sie braucht Kraft, viel Kraft. In einer Stunde beginnt die Morgenmeditation, aber vorher will sie noch nach den Schafen sehen, weil sie das gestern Nacht wieder nicht geschafft hat. Und sie will zum Forsthaus hinauflaufen, sie muss zum Forsthaus hinauflaufen und mit Diana sprechen, denn wenn sie das nicht tut, wird sie verrückt. Sie will wissen, warum Diana sie bei der Polizei angeschwärzt hat. Glaubt sie etwa im Ernst, dass sie Dianas Flinte gestohlen hat? Mühsam und zittrig wie eine alte Frau quält sich Laura die Treppe hinunter und hofft inständig, dass niemand sie hört. Ihr Kopf summt und dröhnt jetzt und ihr Hals schmerzt so sehr, dass ihr beim bloßen Gedanken an eine Zigarette übel wird. Ihre Knie fühlen sich an, als könnten die Gelenke plötzlich in alle Richtungen umknicken, wenn sie nicht ganz doll aufpasst. Früher hat ihr ihre Mutter heiße Milch mit Thymianhonig gemacht, wenn sie Halsschmerzen hatte, und geriebene Äpfel in Haferbrei, mit Klecksen aus selbstgemachtem Johannisbeergelee, aber jetzt ist sie erwachsen und hat keine Mutter mehr. Sie weiß, dass sie krank ist, aber sie will nicht krank sein.
Die Luft draußen ist so kalt, dass Lauras Zähne unkontrollierbar aufeinander schlagen, als sie den Schafstall endlich erreicht. Sie stolpert in die vertraute, wohlriechende dunkle Wärme und lässt sich auf einen Strohballen sinken. Es ist wichtig, dass sie nach dem Rechten sieht, die Schafe brauchen sie. Neulich hatte Hartmut, der alte Leithammel, einen tiefen Schnitt am Hinterbein, sie weiß bis heute nicht, woher. Sie rappelt sich wieder hoch, schleppt sich von Box zu Box. Es ist unendlich anstrengend, die Futtertröge zu befüllen, aber sie beißt die klappernden Zähne zusammen und gibt nicht auf, bis alle Tiere versorgt sind. Schweißbäche rinnen über ihre Schläfen und ihr Herz rast, trotzdem friert sie immer noch.
Die Steigung hinauf zum Forsthaus erscheint ihr endlos, nicht zu bewältigen, viel zu steil. Die Dunkelheit, die sie umfängt, ist vollkommen, sobald sie die Lichtung des Schnellbachtals hinter sich gelassen hat. Der Schnellbach murmelt und plätschert, verborgen in der Schwärze. Warum hat sie ihre Taschenlampe vergessen? Der Fahrweg ist kaum zu erkennen, Laura fühlt ihn mehr, als dass sie ihn sieht; zwei ausgefahrene Rinnen unter ihren müden Füßen. Auf einmal muss sie an das denken, was Diana erzählt hat. Dass es manchmal so ist, als habe der Wald Augen und starre sie an. Rote Kreise tanzen vor ihrem Gesicht. Sie schließt die Augen, öffnet sie wieder. Bewegt sich dort etwas? Sie merkt, wie ihr schwindelig wird, will sich an einen Stamm lehnen, dort an den dunklen Umriss, aber auf einmal wagt sie es nicht, die Hand danach auszustrecken, denn was wird sie tun, wenn das, was sie dort zu sehen glaubt, kein knorriger Stamm ist, sondern ein Mensch?
Jemand ist hier und starrt mich an. So intensiv ist dieses Gefühl, dass sie einen kleinen, schmerzhaften Laut ausstößt, wie eine Maus, kurz bevor die Katze sie packt. Wie weit ist es noch zum Forsthaus,
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