Der Wald ist schweigen
wie weit liegt der Sonnenhof hinter ihr, wann wird es endlich, endlich Tag? Obwohl ihre Beine jetzt so heftig zittern, dass sie sich kaum aufrecht halten kann, gelingt es ihr, ein paar stolpernde Schritte vorwärts zu machen. Und dann ist sie plötzlich sicher: Sie ist nicht allein, ein Mensch ist hier, hinter ihr, kommt immer näher, kommt nah, ganz nah.
Etwas an der zielstrebigen, beinahe lautlosen Art, wie dieser Mensch sich auf sie zubewegt, sagt ihr, dass er böse ist. Dass er böse auf sie ist. Und dass er das auf keinen Fall hinnehmen will. Dass er sie bestrafen wird, auch wenn sie nicht weiß, wofür. Sie fällt auf die Knie, schafft es nicht einmal mehr, vorwärts zu krabbeln. Verharrt einfach, starr vor Entsetzen. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht, auf einmal fällt ihr ein, wie Diana ihr das beschrieben hat. Sie können nicht anders, Laura, warum auch immer. Das Licht, das auf sie zukommt, erschreckt sie so sehr, dass sie einfach stehen bleiben.
Mühsam wendet Laura den Kopf in die Richtung, aus der diese kalte, zielstrebige, schattenhafte Bewegung unaufhaltsam auf sie zurast.
Dunkelheit. Kälte. Ein Lufthauch.
Und dann ist die Bewegung über ihr, reißt sie vom Boden hoch und beginnt zu reden.
»Laura, wo willst du hin? Warum läufst du vor mir weg?«
Sie will schreien, aber ihr Hals tut zu weh. Alles, was sie herausbringt, ist ein Krächzen.
***
Hannah Nungesser stellt eine Tasse Milchkaffee vor Judith auf den Couchtisch und schenkt sich selbst ein Glas Kirschsaft ein. Manni hat Recht, die Ähnlichkeit mit Laura ist unübersehbar, wenn auch die Schönheit der Mutter auf eine gepflegte Art erwachsen ist. Gereift, denkt Judith, weniger wild und sportlich und ganz offensichtlich schwanger. Sie zwingt sich, den Blick von Hannah Nungessers Bauch zu wenden, die mit einem entschuldigenden Lächeln die Slipper abstreift und die Füße halb unter sich aufs Polster des Ohrensessels zieht.
»Sie wollen also mit mir über meine Tochter sprechen.« Hannah Nungessers Stimme ist melodisch, mit einem angenehmen Timbre.
»Ja.« Judith räuspert sich. Jetzt, da sie verwirklicht, was sich in den wenigen durchwachten Stunden seit dem nächtlichen Treffen mit Manni von einer vagen Eingebung zu einem handfesten Entschluss entwickelt hat, einen Entschluss, dessen Umsetzung immer wichtiger zu werden schien, ja geradezu lebenswichtig, das einzige Mittel, um endlich ins Herz dieses ganzen verzwickten Falls vorzudringen, um Licht ins Chaos zu bringen … jetzt weiß sie nicht, wie sie vorgehen soll. Sie fühlt sich leer, ausgebrannt, übermüdet, aber das ist es nicht allein. Ich habe Angst, wird ihr auf einmal klar. Angst vor dem, was Hannah Nungesser sagen wird, wenn ich es denn schaffe, sie überhaupt zum Reden zu bringen.
»Sie lassen Ihre Tochter im Stich.« Es ist das erste, was Judith einfällt, und noch bevor die letzte Silbe verklingt, weiß sie, dass es so nie und nimmer funktionieren kann. Doch vielleicht irrt sie sich, denn Hannah Nungesser reagiert, als habe sie eine solche Anschuldigung erwartet, als habe sie sie schon tausendmal gehört. Geistesabwesend streichelt sie die sanfte Wölbung unter ihren Brüsten.
»Ja, das sieht alles so einfach aus, nicht wahr? Eine junge Witwe kriegt den Hals nicht voll, kurz vor den Wechseljahren gehen die Hormone mit ihr durch, sie verliebt sich, lässt sich schwängern und zu allem Überfluss schiebt sie die Tochter aus erster Ehe auch noch herzlos in einen Aschram ab.«
»War es nicht so?«
»Nein. Aber ich kann wohl nicht erwarten, dass Sie das verstehen.«
»Erklären Sie es mir.«
»Erklären.« Hannah Nungesser starrt eine Weile ins Leere und Judith nutzt die Zeit, sich unauffällig in dem Altbauzimmer umzusehen. Abgeschliffene Holzdielen, Billy-Regale mit Taschenbüchern, ein paar Kunstdrucke und Yucca-Palmen, das Ganze angereichert mit einigen wenigen schicken Designermöbelstücken – die typische Mischung bourgeois gewordener Alt-68er-Sympathisanten. Wieder einmal fällt ihr auf, wie ungeheuer konform die Menschen sich verhalten, obwohl sie in einer Gesellschaft leben, die unbegrenzte Möglichkeiten suggeriert. Hannah Nungesser steht auf und nimmt ein Foto von der Wand, das sie Judith reicht. Vater, Mutter, Kind lachen aus einem Strandkorb. Im ersten Moment glaubt Judith, in der Mutter Laura zu sehen, dann wird ihr klar, dass es eine jüngere Hannah Nungesser ist und Laura das etwa elfjährige Mädchen mit den sandigen Füßen.
»Ich war 23, als ich
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