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Der Wald ist schweigen

Der Wald ist schweigen

Titel: Der Wald ist schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Mustermann
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glauben Sie mir, das ist noch schlimmer als ein Tod. Die Hoffnung, die Fragen, das Warten. Irgendwann beginnt man zu trauern und schämt sich doch gleichzeitig dafür, weil man ja vielleicht aufgibt, nicht genug Vertrauen hat, nicht genug betet und glaubt.«
    Sie holt tief Luft und sammelt sich einen Augenblick. »Seitdem ist kein Tag vergangen, der nicht von dieser Ungewissheit überschattet war. Und als Tage zu Monaten und Jahren wurden, habe ich mir manchmal gewünscht, Robert wäre tot, habe gehofft, es gäbe irgendein kleines Zeichen, und wenn es nur ein Hemdknopf wäre, damit ich ihn begraben könnte. Damit Laura und ich Abschied nehmen könnten.«
    »Laura«, sagt Judith. »Für sie muss es ebenso hart gewesen sein.«
    »Härter vielleicht. Sie war ja noch ein Kind, ein Papakind noch dazu. Mein Gott, wie hat sie Robert geliebt. Und kein Abend ist vergangen, an dem sie nicht gebetet hätte, dass ihr Papa wiederkommt. Sie wollte einfach nicht akzeptieren, dass er tot ist und deshalb nicht zurückkommen kann. Sie will das bis heute nicht akzeptieren. Trotzdem kamen wir klar. Roberts Eltern zahlten einen Gutteil des Kredits für diese Wohnung hier ab – Lebensversicherungen, Rentenansprüche etc., auf all das hatten wir ja keinen Zugriff, solange ich Robert nicht offiziell für tot erklären ließ. Ich arbeitete Vollzeit als Souffleuse, Geldsorgen hatten wir also keine. Und Laura war wunderbar. Sehr verletzt, aber sehr tapfer. Sehr selbstständig. Und immer hervorragend in der Schule.«
    Hannah Nungesser lächelt. »Jedenfalls bis zur Oberstufe. Oder genauer gesagt, so lange, bis Andreas Wengert in ihr Leben trat.«
    »Als Freund?«
    »Zunächst als Lehrer. Sport und Englisch. Er war jung, sah gut aus, war lustig. Alle Mädchen waren von ihm begeistert und himmelten ihn an. Ich habe mir überhaupt nichts dabei gedacht, wenn Laura und ihre Freundinnen mir von ihm vorschwärmten. Er ging mit ihnen ins Kino, englischsprachige Filme gucken, lud sie danach in seine Villa ein, um darüber zu diskutieren. Er grillte Würstchen für sie und spielte ihnen was auf der Gitarre vor.«
    »Ein echt cooler Typ.«
    »Genau. Kennen Sie diesen Film, Cast Away – Verschollen mit Tom Hanks?«
    »Ich bin nicht sicher.«
    »Hanks spielt den einzigen Überlebenden eines Flugzeugcrashs in der Südsee, überlebt ein paar Jahre als Robinson auf einer Insel, wird gerettet und muss feststellen, dass seine Freundin inzwischen mit einem anderen eine Familie gegründet hat.« Hannah Nungesser lacht bitter. »Genau unser Thema also. Und Laura war vollkommen außer sich, als sie den Film gesehen hatte. Sie flippte völlig aus und schrie immer nur, dass ich ihren Vater nie, nie, niemals so verraten dürfe. Damals hatte ich Peter gerade kennen gelernt.« Hannah Nungesser streicht über ihren Bauch. »Himmel, ich war schließlich erst 40, hatte sechs Jahre auf einen Mann gewartet, der aller Wahrscheinlichkeit nach tot ist.«
    »Aber Laura sah das anders. Und Andreas Wengert hat sie getröstet.«
    Hannah Nungesser nickt. »Wie gesagt, sie war außer sich, verlangte, dass ich mich von Peter trennen soll. Von einem Tag auf den anderen waren wir mitten in einem Krieg. Dabei bin ich sicher, Robert hätte gewollt, dass ich mein Leben weiterlebe, mit allen Konsequenzen. Dass ich liebe. Und auch der arme Kerl in dem Film hat das so vertreten. Hat verstanden, dass seine Freundin nicht ewig auf ihn warten konnte, dass sie nicht aufhören durfte, ihr Leben zu leben. Das ist der Stoff, aus dem im Theater die großen Tragödien sind, man kann einfach nicht gewinnen.«
    Sie hält inne und bringt ein zittriges Lächeln zustande. »Keine Ahnung, was nach dem Tod kommt, aber eines weiß ich sicher: Für die, die zurückbleiben, ist es allemal härter – und am allerschwersten ist es, sich zu erlauben, wieder glücklich zu sein.«
    Irgendwo in der Wohnung tickt eine Uhr, pulsiert wie ein Herz, als wolle sie mit jedem Schlag die Bedeutung von Hannah Nungessers Worten unterstreichen, als zähle sie einen Countdown für Judiths Antwort. Sie räuspert sich.
    »Ja, vielleicht.«
    »Patrick war Ihr Freund. Ich bin sicher, er hätte gewollt, dass sie glücklich sind.«
    »Ja.« Es tut weh, aber sie hält es aus, hält es tatsächlich aus, weil sie sich im nächsten Moment wieder auf Hannah Nungesser konzentriert, die Judiths Panik zu spüren scheint und hastig weiterspricht.
    »Peter hat mir geholfen, die schwierige Zeit mit Laura durchzustehen. Bitte glauben Sie mir,

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