Der Wald ist schweigen
Robert kennen lernte und ziemlich bald schwanger wurde«, sagt Hannah Nungesser. »Ich wollte Schauspielerin werden, spielte erste kleine Rollen, jobbte in Kneipen, um das Geld für Schauspielstunden zusammenzubekommen. Robert studierte Geologie. Alle haben uns gesagt, lasst das Kind wegmachen, das kriegt ihr nicht hin. Aber wir wollten nicht, haben geheiratet und Laura kam auf die Welt.«
Hannah Nungesser hält kurz inne und tätschelt ihren Bauch.
»Zum Glück. Und irgendwie haben wir es geschafft. Irgendwann war Laura aus dem Gröbsten raus und Robert hatte seinen Doktor, verdiente endlich Geld. Und trotz einiger Aufs und Abs liebten wir uns noch. Was die Schauspielerei betraf, war der Zug für mich natürlich abgefahren, aber durch Glück bekam ich ein Engagement als Souffleuse am Bonner Theater, einigermaßen gut bezahlt. Da arbeite ich auch heute noch.«
»Was ging schief?«
»Robert bekam die Chance, für einige Monate in Nordafrika zu kartieren. Ich habe es ihm gegönnt, natürlich. All die Jahre hatte er zurückgesteckt, für die Familie. Nun konnte er sich endlich im Gelände austoben. Er war doch Geologe. Und Laura war schon elf.« Sie starrt einen Moment ins Leere, bevor sie weiterspricht. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass er nie mehr zurückkommen würde.«
Als wolle sie sich so in die Realität zurückholen, dreht Hannah Nungesser energisch eine dunkle Haarsträhne um den Zeigefinger, mustert sie einen Moment, bevor sie die Hand wieder auf ihren Bauch sinken lässt und Judith direkt in die Augen sieht.
»Haben Sie schon einmal jemanden verloren, den Sie geliebt haben?«
Das ist es also, was ich gefürchtet habe, was ich gespürt habe, als ich diese Wohnung betrat, denkt Judith. Das ist der Kern dieser Ermittlungen, das Auge des Taifuns, die Quelle meiner Albträume. Ein Teil von ihr ist noch verwundert, wie sie das hatte ahnen können – irgendetwas in den Augen des Mädchens, eine Art Verlust –, aber die jahrelang geschulte, einst hochgelobte Kommissarin, die sie ebenfalls ist, antwortet schon, erstaunlich klar, erstaunlich ruhig. Reagiert auf den Schmerz, den sie in Hannah Nungessers Augen liest, den auch ihre 17-jährige Tochter in sich trägt. Reagiert darauf mit absoluter Ehrlichkeit, weil eine Ermittlung, die sich dem Ende zuneigt, nichts anderes ist als der intime Dialog mit einem guten Freund. Ein gleichwertiges Geben und Nehmen, in dem es keine Ausflüchte gibt.
»Ich habe meinen besten Freund verloren. Patrick. Er wurde bei einem Einsatz erschossen, als er mich vertrat.«
Hannah Nungesser mustert sie aufmerksam. »Wie entsetzlich für Sie, wie traurig.«
»Es ist schon zwei Jahre her. Aber es tut immer noch sehr weh. Ich mache mir große Vorwürfe.« Judith zwingt sich, Hannah Nungessers Blick nicht auszuweichen. Das Bild des Gehängten taucht vor ihr auf. Heiner von Stettens Worte. Sich ausliefern. Sich hingeben.
»Ja. Natürlich tun Sie das.« Hannah Nungessers Stimme ist jetzt sehr leise, immer noch sieht sie Judith unverwandt an, immer noch hält Judith diesen forschenden Bernsteinaugen stand. Sie tastet sich vor in dem Tunnel, der sie umfängt, sieht noch kein Licht, bewegt sich trotzdem immer weiter, verlässt sich dabei vollkommen auf ihr Gefühl.
»Wie Sie.«
Beinahe unmerklich zuckt Hannah Nungesser zusammen.
»Wie ich.« Sie setzt sich ein winziges bisschen gerader in den Sessel, als ob sie sich innerlich wappnen wolle, für das, was sie als Nächstes sagen möchte.
»Ich habe mir in den vergangenen sechs Jahren sehr oft gewünscht, dass Robert tot ist.«
»Aber er ist doch …?«
»Tot. Ja. Ich habe ihn vor ein paar Wochen für tot erklären lassen.« Wieder streichelt Hannah Nungesser ihren Bauch.
»Auch das weiß Laura noch nicht, und wenn sie es wüsste, würde sie mich noch mehr hassen, als sie es ohnehin schon tut. Und wer weiß, vielleicht hat sie Recht. Sie sehen also, mit Schuldgefühlen kenne ich mich aus.«
Hannah Nungesser trinkt einen Schluck Kirschsaft, dann konzentriert sie ihren Blick wieder auf Judith.
»Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Robert tot – aber einen Beweis dafür gibt es nicht. Vor sechs Jahren ist er in der Sahara verschollen. Das Flugzeug haben sie bis heute nicht gefunden. Am Abend zuvor hatten wir noch telefoniert, Laura und ich sollten ihn besuchen, er wollte uns die Wüste zeigen. Am nächsten Morgen ist er mit seinem Kollegen in diese Piper gestiegen und that’s it. Seitdem gibt es nicht die kleinste Spur von ihm.
Und
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