Der Wald ist schweigen
nicht aus der näheren Umgebung des Tatorts.«
»Prima. Und du, Judith?«
»Keiner vom Sonnenhof wird vermisst, das habe ich überprüft. Trotzdem glaube ich, dass wir weiter dort suchen müssen. Oder bei der Försterin. Irgendetwas stimmt da nicht, das spüre ich einfach.«
Manni will etwas sagen, aber Millstätt kommt ihm zuvor.
»Dein Gefühl in allen Ehren, Judith, aber für den Moment schlage ich vor, dass ihr euch strikt an die Fakten haltet. Irgendwelche Ergebnisse mit den Vermisstenanzeigen?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Du hast das Röntgenbild an die Zahnärztlichen Mitteilungen gegeben?«
Der Umschlag, den Karl-Heinz Müller ihr in der Rechtsmedizin gegeben hat. Sie hat ihn in ihr Postausgangskörbchen auf dem Schreibtisch gelegt, aber sie hat die Adresse von den Zahnärztlichen Mitteilungen nicht zur Hand gehabt. Der verdammte Umschlag ist immer noch unadressiert. Sie fühlt wie ihr die Röte ins Gesicht steigt.
»Ja, klar.« Sie zwingt sich, Millstätts Schokoladenblick auszuhaken. Gleich nach diesem Meeting wird sie ihren Fehler korrigieren und keiner wird es merken. Wie erbärmlich, dass wir als Mordkommission überhaupt Annoncen in einem Käseblatt wie den Zahnärztlichen Mitteilungen schalten müssen, denkt sie. Es ist ein Wunder, dass es tatsächlich hin und wieder einen Zahnarzt gibt, der das Gebiss eines Patienten wiedererkennt und sich bei uns meldet. Aber was sollen wir sonst tun? Ein bundeseinheitliches Computersystem mit den Daten aller Vermissten und unbekannten Toten gibt es nur in den Fernsehkrimis. Einen Moment sieht es so aus, als ob Millstätt sie ins Kreuzverhör nehmen wolle, dann steht er einfach auf. Das Morgenmeeting ist beendet. An der Tür dreht er sich noch einmal um.
»Ihr seid ein Team, also verhaltet euch auch so. Schaut euch diesen Zeugen Marc Weißgerber gleich zusammen an. Ich habe keine Lust, nochmal mitzubekommen, dass der eine von euch erst im Morgenmeeting erfährt, was der andere tut. Ab sofort möchte ich einen gemeinsamen Bericht von euch hören. Keine Alleingänge mehr. Ist das klar?«
Millstätt verschwindet im Flur, lässt sie in seinem Büro zurück. Wie die sprichwörtlich begossenen Pudel, denkt Judith. Sie überlegt, was sie sagen soll, aber ihr fällt nichts ein. Früher hätte sie es gewusst.
»Also dann. Ich schlage vor, dass wir mit einem Auto fahren.« Manni steht auf. »Mal sehen, was uns unser famoser Fuhrpark heute bietet.«
»Ich muss noch schnell etwas in meinem Büro …«
»Um neun bin ich mit diesem Weißgerber verabredet. Und vorher müssen wir noch Hans Edling briefen.« Manni steht schon im Flur.
»Ich beeil mich ja. Wenn du nicht warten willst, kann ich ja nachkommen.«
»Lass uns zusammen fahren.«
Judith will widersprechen, prallt aber beinahe gegen Axel Millstätt, der eben mit einer Tasse Kaffee und seiner Tagespost wieder sein Büro betreten will.
»Kommst du?« Manni geht zum Aufzug. Sie fühlt Millstätts Blick. Es gibt keine Ausrede, sie sitzt in der Falle. Muss die Zahnarzt-Postille eben noch ein paar Stunden warten. Judith zieht ihren Mantel über und hastet an ihrem Chef vorbei.
»Ja doch.«
***
Marc Weißgerber ist blass, picklig und nervös. Er trägt eine dieser Jeans, deren Hosenboden irgendwo in den Kniekehlen hängt. Er kann nicht stillsitzen, tritt unentwegt mit seinen Puma-Sportschuhen gegen die Stuhlbeine. Die braunen Kuhaugen, mit denen er hartnäckig seine knubbeligen Finger fixiert, hat er eindeutig von seiner Mutter, aber seine Haare sind dunkler als ihre. Zwischen Nase und Oberlippe kultiviert er einen dünnen Flaum. Ich habe damals genauso albern ausgesehen, denkt Manni Korzilius, und in die Augen hab ich auch niemandem geschaut. Das muss gar nichts heißen. Erwachsenwerden ist nun mal verdammt schwer. Mann werden, ha, ha. Petra Weißgerber umkreist den Küchentisch wie ein Nachtfalter die Glühbirne. Rückt Tassen und Untertassen zurecht. Einen Teller mit Gebäck. Schenkt Kaffee ein. Lächelt zu viel. Sie weiß etwas. Sie weiß, dass ihr Sohn etwas weiß. Marc weiß etwas, denkt Manni. Er schaut herüber zu Judith und bildet sich ein, dass auch sie es sieht. Jedenfalls sieht sie endlich etwas wacher aus. Manni löffelt Zucker in seinen Kaffee und rührt. Man muss den Jungen langsam kommen lassen, wenn man ihn einengt, wird man gar nichts erfahren. Er legt den Löffel auf die geblümte Untertasse.
»Du bist also viel im Wald unterwegs.«
»Mmh, weiß nicht. Manchmal vielleicht. Mit dem Bike
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