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Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Titel: Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Tessendorf
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käme es besser zur Geltung«, sagte sie und stand auf. Dann öffnete sie die Tür und ging auf die großzügige Terrasse hinaus, die einen unverbauten Blick über die hügelige Waldlandschaft bot. »Zeichnest du eigentlich noch?«, fragte sie, als der Großvater zu ihr trat. »Du und ich, wir sind doch in unserer Familie die Einzigen, die mit Kunst was am Hut haben.«
    Aber kaum war der Satz gesagt, bereute sie ihn zutiefst. Sie wusste, wie Vincent, dass auch sein Sohn Ruben ein äußerst begabter Zeichner gewesen war.
    »Ab und zu kommt es tatsächlich noch vor, dass ich meinen Bleistift hole und mir anmaße, diese Szenerie hier festhalten zu können.« Er beschrieb mit dem rechten Armeinen weitläufigen Halbkreis wie ein römischer Feldherr, der sich die majestätische Waldlandschaft inklusive der darin hausenden barbarischen Ureinwohner untertan gemacht hatte.
    »Ich habe mein Leben lang daran gearbeitet, aber richtig zufrieden war ich nie. Immer war das Licht dann doch anders, plötzlich war Nebel da, die Schattierungen waren unbefriedigend   …« Er machte eine kurze Pause. »Das wahre Göttliche kriegt man nicht zu packen.«
    Olga wunderte sich, so etwas aus dem Mund ihres Großvaters zu hören. Das passte gar nicht zu ihm. Aber kannte sie ihn überhaupt? Woher wollte sie wissen, was zu ihm passte und was nicht?
    »Ja, da hast du recht. Es sind immer nur unbefriedigende Momentaufnahmen«, antwortete Olga.
    Er wandte sich seiner Enkelin zu. »Und wie steht es bei dir? Verdienst du Geld mit der Kunst?«
    »Na ja, ich bemühe mich. Leicht ist es nicht. Die Kundenzeitschriften großer Firmen oder Werbeagenturen zahlen ganz gut. Aber an die wirklich schönen Aufträge zu kommen, ist viel schwieriger. Kurz bevor ich gekommen bin, habe ich den Auftrag für die Illustration einer ganzen Reihe von Kinderbüchern bekommen. Und ein belgischer Verlag interessiert sich für meine Comics.«
    »Comics?«
    Olga musste lachen. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Micky Maus und Superman. Aber es gibt noch viel mehr. Ich erzähle Geschichten. Der Schriftsteller hat die Sprache. Ich erzähle mit Tusche und Pinsel oder mit dem weichen Bleistift.«
    Ihr Großvater nickte unmerklich.
    Schweigend standen sie auf der Terrasse und schauten in die Ferne.
    »Man sieht immer noch kein anderes Haus. Noch nicht einmal einen Mobilfunkmasten hat man dir vor die Nase gesetzt.« Olga suchte die ganze Landschaft ab, es gab, von der Aufforstung abgesehen, keinen Hinweis auf menschliches Dasein. »Als wäre man alleine auf der Welt.«
    Ihr Großvater nickte. »Ein tröstlicher Gedanke. Wenn man nicht doch wüsste, dass es unter dem Blätterdach nur so wimmelt   …«
    Sie schaute ihn an. Sein Blick tastete die Baumwipfel ab, die sich auf den Bergkämmen erhoben und gemächlich, wellenförmig in den Tälern versanken. Die Luft war heiß, feucht und flimmernd, und nur anhand der unterschiedlichen Grünschattierungen konnte man die bewaldeten Bergrücken ausmachen.
    »Manchmal kann auch ein Trugbild tröstlich sein. Man muss nur lernen, sich damit zu begnügen«, sagte Olga.
    »Am meisten liebe ich es, wenn die Täler morgens mit Nebel gefüllt sind«, sagte er.
    Olga kannte dieses zauberhafte Phänomen noch aus ihrer Kindheit. »Es erinnert an Wasser, das in allen Tälern gleich hoch steht und nicht rechtzeitig bei Tagesanbruch abgeflossen ist. Ich habe mir als Kind immer vorgestellt, mit dem Schiff darauf zu fahren.«
    »Na, dafür hattet ihr ja das Floß.«
    Olga lachte. »Hat es sich doch herumgesprochen, unser großes Geheimnis.«
    »Geheimnis!«, wiederholte Vincent bedeutungsvoll. »Du siehst hier zwar kein Haus und keine Menschenseele, du lebst hier still vor dich hin, auf deiner Nebelburg, hoch über allen Dingen. Dann steigst du herab, weil es aus irgendeinem Grunde doch einmal sein muss – Elise ist krank, Konrad geht nicht ans Telefon – und dann heißtes ›Guten Tag, Herr Ambach. Was macht Ihre Galle, geht es Ihnen wieder besser?‹.« Vincent schmunzelte kaum merklich. »Magst du die Einsamkeit?« Er wandte den Blick vom Tal ab und betrachtete seine Enkelin.
    »Ja. Aber nicht diese hier. Mir gefällt die Einsamkeit, die ich mir in der Stadt erkämpft habe. Weil ich sie steuern kann. Sie ist ein kostbares Gut, um das ich täglich kämpfe. Die Einsamkeit hier draußen im Wald ist mir unheimlich.« Olga machte eine Pause. »Sie kommt mir zu nah, sie macht, dass ich mich verlassen und allein fühle. Außerdem ist sie mir zu gefährlich

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