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Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Titel: Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Tessendorf
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Lebens, den einzigen dir verbliebenen Sohn zu dir zurückholen?« So oft hörte sie sich selbst diese Frage stellen, doch jedes Mal, wenn sie Vincent ansah, zerfloss ihr Vorsatz im wässrigen Schimmer seiner Augen. Er würde ihr wahrscheinlich gar nicht antworten, einen Husten- oder Herzanfall bekommen oder einfach zum nächsten Thema übergehen. Er hatte mit seiner Vergangenheit abgeschlossen und lebte das Leben eines Neunzigjährigen, der gesundheitlich gerade noch zurechtkam und sich ganz und gar in die Welt seiner Bilder und seiner Bücher zurückgezogen hatte, trotz seiner schlechten Augen. Olga fiel auf, dass er bereits diesen Ausdruck in den Augen hatte, diesen visionären Blick, den sehr alte Leute zuweilen haben. Sie konnten das Kleingedruckte zwar nicht mehr lesen, aber sie sahen anders. Ihr Blick ermöglichte es ihnen, dorthin zu schauen, wo sie erahnen konnten, was sie erwartete. Lange konnten sie einfach nur dasitzen. Nach innen schauen. Und weit hinaus. Das Hier und Jetzt interessierte sie nicht mehr.
    »Bekommst du ab und zu mal Besuch?« Olga hatte sich schon öfter gefragt, mit wem ihr Großvater überhaupt noch verkehrte.
    »Frau Himmelreich hat sich meiner angenommen.« Olga glaubte, ein verstecktes, leicht mitleidiges Lächeln gesehen zu haben.
    »Frau Himmelreich?«, fragte Olga erstaunt. »Deine ehemalige Sekretärin?«
    »Ja, ebendie«, antwortete er knapp. »Wir trinken Tee oder gehen in den Garten.«
    Er hat seine ehemalige Crew um sich versammelt und sich mit ihr zurückgezogen, dachte Olga. Alle lebten alleinund teilten ihre Einsamkeit. Gar nicht so schlecht. Vielleicht las sie ihm ja auch vor?
    Vincents Frau war kurz nach der Geburt des zweiten Sohnes Roman gestorben, und Olga konnte sich nicht erinnern, ihren Großvater je mit einer anderen Frau gesehen zu haben. Außer seiner Sekretärin. Gudrun Himmelreich war fast immer an seiner Seite. Aufmerksam und zurückhaltend, vornehm diskret, ausgestattet mit professioneller Kühle. War da mehr gewesen? Olga betrachtete ihren Großvater lange von der Seite. Ein ganz neuer Aspekt tat sich auf, den Olga plötzlich ungeheuer spannend fand.
    »Wie alt ist sie jetzt?«
    »Zweiundsiebzig. Hast du noch deinen isländischen Freund?«, fragte er plötzlich und Olga erschrak über diese simple Frage. »Wie heißt der Junge noch? Gunvald?«
    »Thorvald«, sagte sie. »Äh, ja. Er war auch auf dem Klassentreffen.«
    »Musiziert er noch?«
    »Er ist Opernsänger. Er singt an der Königlichen Oper in Kopenhagen.«
    »Aber hatte er nicht etwas anderes studiert?«
    Olga war erstaunt über das gute Erinnerungsvermögen des Neunzigjährigen. Ohnehin schien ihr Großvater von Verkalkung und altersbedingter Demenz weit entfernt zu sein, trotz seines hohen Alters. Olga wurde langsam klar, dass er in jeder Hinsicht ein Phänomen war. Deshalb war auch Juliane auf ihn aufmerksam geworden. Er hatte eine kleine Schmiede zu einem Weltunternehmen gemacht, er hatte Bilder an den Wänden hängen, von denen manche Museen nur träumen konnten, er besaß eine profunde klassische Bildung, er war geistig wie körperlich stabil und er war stolz, voreingenommen,eitel und stur. Der sterbende Fürst verschanzte sich mit seinen Trophäen und harrte aus, am Leben gehalten durch seine Erinnerungen und ein starres Rückgrat, das ihn mühsam aufrecht hielt.

10
    Thorvald saß auf dem Trockenen, und ihm lief die Zeit davon. Er wollte zwar einige Tage Urlaub machen, denn das hatte er seit Ewigkeiten nicht getan, aber durch die Ereignisse war sein Urlaubsgefühl völlig verschwunden. Er hätte abreisen können, Kirschbaum hatte keinen Grund, ihn festzuhalten, aber das Versprechen Ines gegenüber, Hanna und damit irgendwie auch Benno zu helfen, hielt ihn. Aber es löste ein tiefes Unbehagen in ihm aus. Er musste eigentlich täglich arbeiten, um im Herbst mit den Liederabenden beginnen zu können.
    Die drückende Hitze dämpfte Thorvalds Tatendrang. Schwer erhob er sich von dem Sofa, auf dem er sich gelümmelt und vergebens versucht hatte, sich vorzustellen, wie die ganze Geschichte hier draußen weitergehen würde. Er hatte das kleine Kofferradio eingeschaltet und lauschte dem Wetterbericht. Keine Veränderung. Die extreme Hitze sorgte mittlerweile für die ersten Waldbrände, in manchen Gegenden nahmen die Behörden bereits das Trinkwasser ins Visier. »Bestimmt nicht hier«, dachte Thorvald. Die Wasserspeicher der Gegend hatten sich durch den regelmäßigen und lang anhaltenden

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