Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
Steigungsregen mit Wasser vollgesogen und sorgten für gleichbleibenden Wasserstand der Talsperren. Noch.
Er musste raus. Er hatte gerade diesen Entschluss gefasst und überlegte, wie er an ein Fahrzeug kommen würde – die Schwebebahn war tabu –, als sein Handy klingelte. Ein Mann namens Christian meldete sich.
»Wer?« Thorvald ging davon aus, dass jemand die falsche Nummer gewählt hatte.
»Reuther, Christian Reuther. Mensch, Donar, streng dich mal ein bisschen an!«
Das helle Lachen verwirrte ihn noch mehr. Aber er hatte ihn »Donar« genannt. Das taten nur sehr wenige, die ihn gut kannten. Wer war das nur?
Der Anrufer merkte, dass Thorvald noch immer ohne Orientierung war, und hatte seinen Spaß daran. Auch Thorvald gefiel dieses seltsame Gespräch so langsam.
»Ort? Zeit? Nein, warte! Das hilft mir nicht. Besondere Vorkommnisse?«
»Ein blaues Auge, eine heulende Dramaturgin und sieben Vorhänge!«
»Und ein Dirigent, der seinen Taktstock nach dir geworfen hat und stattdessen den Bassbariton erwischte, weil du dich schnell gebückt hast!«, rief Thorvald lachend.
»Herzlichen Glückwunsch, du Rampensau! Wo steckst du? Ich brauche dich.«
»Im dunklen Wald, ganz tief drin und ganz allein. Rette mich!«
»Bin unterwegs.«
Thorvald hatte keine Ahnung, was Christian von ihm wollte. Er musste sich überraschen lassen und freute sich auf den verrückten Kerl, mit dem er bei der Arbeit so viel Spaß und auch einigen Ärger gehabt hatte.
Gutgelaunt machte Thorvald sich auf den Weg zum vereinbarten Treffen. Der unerwartete Anruf hatte ihn aus seiner Lethargie geweckt. Zum »Luis« nahm er nicht den üblichen Waldweg, sondern er folgte dem Bach, der sich in Kurven den Berg hinabwand. Er schaute in das munter sprudelnde Wasser und Joseph Haydns »Fließ leise mein Bächlein« kam ihm in den Sinn.
Er blieb stehen und drehte sich noch einmal um. Die Hütte lag einsam auf der Anhöhe und Thorvald verspürte auf einmal eine bittere Sehnsucht nach der verlorenen Zeit und nach der Unbeschwertheit, in der sie damals gelebt hatten. Er war plötzlich unendlich traurig, dass die Hütte verkauft werden sollte.
Im Weitergehen versuchte er vergeblich, Benno auf seinem Mobiltelefon zu erreichen. Es war abgeschaltet. Merkwürdig. Benno hatte versprochen, erreichbar zu bleiben. Auch Olga ging nicht an ihr Handy, sie war vermutlich noch bei ihrem Großvater.
Im »Luis« angekommen, setzte Thorvald sich an die Bar. Er bestellte sich gerade einen Limonen-Brandy mit Eis, als sich jemand neben ihm an die Bar lehnte.
»Das ging aber schnell«, wollte Thorvald erstaunt sagen, doch es war nicht Christian. Es dauerte eine Weile, bis Thorvald begriff und einen Freudenjuchzer ausstieß. Olgas Vater hielt ihn lange in den Armen, als hätte er seinen eigenen Sohn wiedergefunden.
Roman und Thorvald setzten sich an einen Tisch in der Nähe der Tür und begannen, sich die letzten Jahre im Schnelldurchlauf zu erzählen.
Thorvald führte das Leben eines Hochleistungssportlers, und er zog seine ganze Kraft aus der Musik, für sie lebte er. Den Ausgleich für den enormen Leistungsdruck, unter dem er stand, holte er sich aus der Natur seiner Heimat Island, die er regelmäßig besuchte. Er sog die Magie dieser unwirklichen Gegend restlos auf und konnte sich damit seiner selbst vergewissern, sich selbst wiederfinden und einordnen. Dann konnte er alle Arbeit und seine ungeheure Selbstdisziplin abstreifen und ganz im Augenblick aufgehen. Sein Job ermöglichte ihm dieses Leben, das er für keinen Preis der Welt mehr hergebenwollte. Er liebte seine Arbeit so sehr, dass es für ihn undenkbar war, seine Zeit mit einem Beruf zu vergeuden, der keinen Spaß machte.
Roman war ihm ganz ähnlich. Er hatte es keine Sekunde seines Lebens bereut, dass er, entgegen den Vorstellungen seines Vaters, Arzt geworden war, obwohl er damit den Bruch herbeigeführt hatte. Da saßen zwei, die sich ihren Lebensweg selbst vorgaben. Der eine ließ sich auf den Flügeln der Musik in verzauberte Sphären des Daseins treiben, der andere war einfach so, wie er war. Er war Arzt und musste viel dafür geben. Doch weder die Verbitterung seines Vaters über die Berufswahl noch die »gescheiterte Ehe« – Roman hasste diesen Begriff: »Hier ist nichts gescheitert, wir haben es uns nur anders überlegt!« – konnten ihn davon abhalten, das zu tun, was er immer tun wollte.
Beide hatten ein Ziel erreicht, für das es sich lohnte, sogenannte Entbehrungen hinzunehmen. Was
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