Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
geworden.«
Gemeinsam gingen sie wieder ins Haus. Drinnen war es kühler und Vincent schloss die Verandatür, um die Hitze auszusperren. Die dicken Mauern des alten Herrenhauses glichen die Temperaturschwankungen perfekt aus.
»Es herrscht eine merkwürdige Stimmung unter den Leuten im Wald, seit sie Hanna …«, sie unterbrach sich, »du weißt, die Ärztin hier im Wald«, der Großvater nickte, »… also seit sie in Untersuchungshaft sitzt, sind alle ziemlich verunsichert und grübeln fieberhaft, was passiert sein könnte und wofür Juliane mit dem Tod bezahlen musste.«
»Hattest du mit der Frau noch etwas zu tun?«
»Nein, wir haben uns erst beim Klassentreffen wiedergesehen. Ehrlich gesagt bin ich froh darüber – ich meine, dass ich sie nicht mehr so gut kannte.«
Olga trank einen Schluck Tee, der jetzt schön lauwarm war.
»Aber jeder ist auf seine Weise davon betroffen: Ich habe Juliane gefunden, Hanna wurde verhaftet, Luis Sander hatte ein Verhältnis mit Juliane, Benno möchte Hanna zurückhaben, Ines und Thorvald können nicht weg, weildie Ermittlungen noch laufen – aber ich glaube, sie wären auch so geblieben.«
»Und doch glaubt ihr nicht, dass eure Freundin diesen Mord begangen hat.«
Ihr Großvater hatte aufmerksam zugehört, aber Olga war sich nicht sicher, ob er alle Namen noch zuordnen konnte.
»Richtig«, sagte sie fest. »Ebenso hätte ich sie umbringen können, und das ist genauso undenkbar.«
»Sag das nicht.« Vincent erhob sich, um Tee nachzuschenken. »Jeder Mensch lebt in seiner eigenen Welt. Und jeder steht seit seiner Geburt in Interaktion mit anderen, hat seine eigene Vergangenheit und Zukunft. Deshalb kennt man die Beweggründe, die Motivation anderer Menschen nie wirklich. Und du selbst wirst nur mit den Tatsachen, dem Resultat konfrontiert – das, was dazu geführt hat, wirst du nie ergründen können.«
Olga dachte darüber nach. »Jeder Mensch hat seine eigene Wirklichkeit … und seine eigene Wahrheit. Ich bin, was ich sehe!«, sagte Olga und nippte an ihrem Tee. »Ach, was weiß ich. Lass uns von was anderem reden. Macht Konrad noch deinen Garten?«, fragte sie.
»Sieht man das nicht? Ich würde keinen anderen in meinen Garten lassen.«
»Er ist schon ewig bei dir, oder? Wie lange hat er eigentlich für dich als Buchhalter gearbeitet?«
»Vierzig Jahre. Er war mein zuverlässigster Mitarbeiter.« Vincent Ambach hob energisch den Kopf. »Das ist nicht selbstverständlich, wenn man Angestellte hat.«
Olga wusste, worauf Vincent anspielte: Er hatte zwei Söhne und trotzdem keinen Nachfolger, der seinen Betrieb, sein Lebenswerk weiterführte. Vincent, der »Siegende«, hatte die schwerste Niederlage erlitten. Das warin seinem Lebensentwurf nicht vorgesehen, dafür war er nicht gemacht. Und davon hatte er sich nie mehr erholt.
Jahrhundertelang hatte sich das schwere Wasserrad der kleinen Schmiede der Ambachs in einem feuchten engen Bachtal gedreht. Tag und Nacht hatten Olgas Vorfahren das laute Rauschen und Klappern gehört.
Die Schmiede war kontinuierlich weitergeführt und ausgebaut worden, bis sie am Ende unter Vincent Ambachs Leitung zu einem führenden Unternehmen in der Stahlbranche geworden war. Persönlich war er tagtäglich durch die lärmenden, heißen Hallen gegangen, um seine Mannschaft zu begrüßen. Bis der große Bruch kam, unerwartet, wie eine Heimsuchung.
Vincents Porträt an der Wand zeigte verblüffend echt jene Lässigkeit, die selbst von einem Aristokraten nicht übertroffen werden konnte. Aufrecht an seinem Schreibtisch sitzend, gefällig auf die Bergischen Hügel blickend, auf »sein Land«, markierte es allerdings auch schon das Ende der Ära Ambach. Sah er noch hoffnungsvoll in die Zukunft oder war sein Blick bereits rückwärts gewandt, ahnend, dass er es nicht mehr schaffen würde, sein Erbe an seine Söhne weiterzureichen?
Olgas Vater Roman hatte es gewagt, die Familientradition der Stahlschmiede zu durchbrechen. Er war anders. Er wollte keine harte Materie gewaltsam in Formen zwingen. Er brauchte Menschen um sich. Er wollte helfen, trösten und begleiten und entschloss sich, Arzt zu werden. Damit war er der Erste der Ambachs, der sich gegen die von Gott gegebene Ordnung innerhalb der Familie hinwegsetzte. Vincent hatte ihn und am Ende sich selbst schwer dafür bestraft.
Immer wieder hatte Olga sich vorgenommen, ihrenGroßvater auf Roman anzusprechen. »Warum zum Teufel kannst du nicht wenigstens jetzt, am Ende deines langen
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