Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
Es dauerte eine Weile, bis sie das, was sie dort sah, richtig einordnen konnte. Ihre weißen Schuhe, die sie zuletzt auf Julianes Fensterbank gesehen hatte, standen adrett nebeneinandervor der Tür, im rechten steckte eine weiße Lilie.
Sie drehte sich schnell um, alles war still. Sie bekam Gänsehaut, hatte den Eindruck, als könnte noch jemand hier sein.
»Verdammt noch mal!«, flüsterte sie.
Dann bemerkte sie, dass die Tür nur angelehnt war. Sie zögerte und holte tief Luft. Langsam öffnete sie die Tür. Alles war ruhig. Lange blieb sie so stehen, sah nach hinten in den Garten und dann wieder ins Haus. Ruhe. Irgendwo weit weg war fröhliches Kinderlachen zu hören. Bennos, Thorvalds oder ihr eigenes? Mehrere Kinder schrien, riefen irgendetwas und lachten immer wieder. Sie bückte sich, nahm die Lilie und trat ein.
Er war in der Hütte gewesen. Oder sie. Es war nichts zerwühlt und die Schubladen waren nicht herausgerissen, aber jemand hatte sich hier umgeschaut. Schlagartig wurde ihr klar, dass der heimliche Besucher die Hütte während ihrer Abwesenheit regelmäßig betreten hatte. Sie hatte mehr als einmal bemerkt, dass die Tür offen gewesen war, wenn sie von einer ihrer Unternehmungen zurückgekommen war. Obwohl sie sicher gewesen war, sie zugemacht zu haben. Sie musste sich angewöhnen abzuschließen.
Wer verfolgte sie? Olga hatte einfach keine Idee. Nach einer Weile suchte sie nach ihrer Handtasche. Sie zog die Zeichnung heraus, die sie von der Toten gemacht hatte, und starrte auf das Blatt Papier.
»Wer hat dir das angetan, Juli?«
Die Lilie lag auf dem Tisch. Die Lilie. Licht, Reinheit, Unschuld. Und Tod. Drei Tage vor dem Tod beginnt eine Lilie zu welken, so eine alte Legende. Wie diese Blume, sowelkte auch das Leben. Ihr Leben? Wer kannte die Legende sonst noch außer Olga?
Sie faltete die Zeichnung langsam zusammen und steckte sie in die Gesäßtasche ihrer Jeans.
Es dauerte lange, bis Ines an ihr Telefon ging. Im Hintergrund waren Kinderstimmen zu hören, die fröhlich durcheinanderplapperten.
»Bist du im Kindergarten?«, fragte Olga.
»Ja, so ähnlich«, antwortete Ines. »Meine Kinder sind hier. Henry ist krank geworden und Leo muss arbeiten. Er hat sie zu meinen Eltern gebracht. Wo steckst du?«
»Ich bin in der Hütte«, antwortete Olga.
»Und?«, fragte Ines. »Gibt es Neuigkeiten?«
»Das kann man so sagen. Meine Schuhe – du weißt, die ich bei Juliane verloren habe. Sie standen vor der Hütte.«
Schweigen am Telefon.
»Außerdem war jemand in meiner Hütte.«
»Das ist nicht gut.«
»Nein, ist es nicht.« Olga stand auf und schloss die Tür von innen ab.
»Ich habe dieses Wort entziffert«, wechselte Ines das Thema.
»Bitte?«
»Dieses Wort, das Juli mehrere Male geschrieben und markiert hatte.«
»Ja? Und? Was heißt es?« Olga hatte gar nicht mehr daran gedacht.
»Hagenberg.«
»Hagenberg«, wiederholte Olga tonlos.
»Sagt dir das Wort etwas«, fragte Ines.
»Hagenberg …« Olga versuchte sich zu erinnern. »So heißt der Wupperabhang hinten an der Nordseite desBeyenberges. Aber den Ausdruck benutzt heute keiner mehr. Auf seinen Wiesen wurde früher Wäsche gebleicht … warte mal, wenn ich so darüber nachdenke … Ganz in der Nähe liegt diese Fundstelle der Kunstgegenstände, von der alle reden. Für die sich Benno auch interessiert.«
Ines schwieg.
»Was machen wir damit?«, fragte Olga.
»Ich weiß es noch nicht. Wir sollten uns da vielleicht einmal umsehen. Ich kann allerdings erst morgen früh.«
»Ja gut, dann bis morgen.«
Olga stand am Fenster der Hütte und schaute in den wolkenlosen Abendhimmel, der sich bereits verfärbt hatte. Im Radio war vom Ende der Hitzewelle die Rede gewesen, von schweren Gewittern mit Regen. Wann würde die Erlösung endlich kommen.
Hagenberg. Bei diesem Namen klang in ihrem Unterbewusstsein noch etwas anderes nach, was mit Wäschebleichern nichts zu tun hatte. Hatten sie dort nicht oft gespielt? Natürlich, aber das war nichts Besonderes. Ihr Revier war erstaunlich groß gewesen. Und die Eltern wussten nicht, wie weit sie ihr Territorium ausgedehnt hatten.
Sie ging zum Bücherregal und holte die Fotoalben und eine Schachtel mit alten Fotos heraus.
Als Thorvald eintraf, hatte Olga bereits zwei Alben durchgeblättert und mehrere Fotos vor sich ausgebreitet, auf denen die Wiesen des Hagenbergs zu sehen waren. Die Fotos der Familien beim Picknick, mit und ohne Esel.
Thorvald setzte sich zu Olga auf den
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