Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
Unterhemd trocknete sie sich ab, dann zog sie den engen Pullover über die nackte Haut.
»Juliane hat damals laut gelacht, als Thorvald wieder auftauchte … sie konnte gar nicht mehr aufhören.« Schweigend blickte Olga auf das Wasser, das sich langsam wieder beruhigte, bis es glatt vor ihnen lag. Als wäre nie etwas gewesen. Im Wasser hinterlässt niemand Spuren.
Langsam, als hätte der Teufel alle ihre offenen Fragen mit einem Satz beantwortet, drehte sie sich zu Ines und starrte sie an.
»… und Juli hat gerufen.« Olga stand auf. »Ich habe Juliane rufen hören … Ines … ich habe meinen Namen gehört. Als sie ermordet wurde, hat sie meinen Namen gerufen.«
Ines sah sie ohne jegliche Regung an.
Olga flüsterte: »Es war kein Traum, ich habe das nicht geträumt.« Sie wandte sich ruckartig um. »Ines … Juli hat nach mir gerufen. Im Morgengrauen. Da hat sie ihrem Mörder bereits ins Gesicht gesehen.«
»Wann war das?«
»Die Vögel«, sagte Olga leise. »Die Vögel …«
Ines runzelte die Stirn und Olga fuhr fort. »In der Nachtdes Klassentreffens bin ich allein zur Hütte gegangen. Ich habe mich auf die Veranda gesetzt. Die Vögel haben so laut gesungen. Ich bin eingenickt, kurz darauf kam Thorvald durch die Büsche.«
Olga hatte das laute, übermütige und fröhliche Vogelkonzert wieder in ihren Ohren. »Das Rotkehlchen hatte gesungen, dann die Amsel, glaube ich. Und der Kuckuck, das weiß ich genau. Die verschiedenen Vögel fangen zu bestimmten Zeiten an zu singen. Das kann man mit Hilfe der Vogeluhr genau berechnen. Das habe ich von meinem Vater gelernt.«
Ines war schnell aufgestanden. »Wenn das stimmt, dann haben wir vermutlich den genauen Todeszeitpunkt.«
»Wieso, steht der noch nicht fest?«, fragte Olga und fuhr sich verwirrt durch die nassen Haare. Dann schlüpfte sie in die widerspenstige Jeans, die an den feuchten Beinen festklebte.
»Juli lag mehr als einen Tag im Wasser, da gibt es Probleme.«
»Komm!« Olga bückte sich, um die Fotos einzusammeln, und lief polternd den Steg zurück. »Im Internet finden wir bestimmt eine Vogeluhr für diese Gegend hier.«
Die Frauen liefen den Berg hinauf. Ines, die nicht wenig rauchte, keuchte schwer.
»Was genau hat Juli beim Klassentreffen gesagt?«, rief sie.
Olga drosselte das Tempo und versuchte, sich den Abend wieder ins Gedächtnis zu rufen.
»Sie hatte so mit ihrem Gedächtnis geprahlt und behauptet, sich an Dinge zu erinnern, die passiert waren, als sie fast noch ein Baby war.«
Eine Zeit lang hörte man nur das Knacken der Äste und die hastigen Schritte der Frauen im stillen Wald. Abund zu blieb eine der beiden im Gestrüpp hängen oder stolperte über eine Baumwurzel. Olga spürte, wie gut ihr das schnelle Gehen tat. Sie konnte wieder klare Gedanken fassen.
Erst jetzt hatte sie richtig begriffen, dass sich ihre Kindheitserinnerungen mit den Ereignissen von vor einigen wenigen Tagen verflechten ließen. Sie hatte den roten Faden gefunden, der sie an die richtige Stelle führen würde, hin zu den Abgründen.
Nur wenige Minuten noch, bis Thorvald wieder auf die Bühne musste. Der Gesang der holländischen Geistermannschaft schwoll an, wiederholte sich, wurde energischer.
Olga war nicht ans Telefon gegangen. Ines‘ Nummer war nicht in seinem Telefon gespeichert. Er hatte versucht, über Benno an sie heranzukommen. Doch der ging nicht dran.
Die Norweger versuchten, die Holländer mit ihrem Lied zu übertönen. Das Tosen des Meeres setzte ein, wurde lauter und bedrohlicher. Der Wind ging in einen heftigen Sturm über und heulte, der wilde Gesang der Holländer … in Thorvalds Kopf flog alles durcheinander.
Der Gesang verstummte. Jemand schubste ihn auf die Bühne.
Was musst ich hören? Gott, was muss ich sehen?
Ist‘s Täuschung? Wahrheit? Ist es Tat?
Gerechter Gott! Kein Zweifel! Es ist wahr!
Welch unheilvolle Macht riss dich dahin?
Welche Gewalt verführte dich so schnell,
grausam zu brechen dieses treuste Herz!
Dein Vater – ha –…
In Eriks Jagdrock klingelte es.
»Wohl kenn’ ich ihn, mir ahnte, was geschieht!«
Der Bildschirm des Computers in Romans Arbeitszimmer warf einen bläulichen Schimmer auf die Gesichter der beiden Frauen.
»Es waren das Rotkehlchen und der Kuckuck. Kannst du die Recherche übernehmen?«, bat Olga. »Ich suche in der Zwischenzeit nach Romans Krankenakten. Hoffentlich hat er sie noch.«
Langsam stieg sie die Treppe hinunter und stellte sich in die Mitte der
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