Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
Die Bravorufe hallten durch die Oper und der Beifall töste.
»Das mit dem Telefon, mein Lieber …«
»… hast du mir längst verziehen. Leb wohl, ich schicke dir meine Kontonummer per SMS.«
21
Noch nie war Thorvald so schnell im Wald gewesen. Die Sängerin hatte einen Kleinwagen mit enorm viel PS, die reinste Rakete. Auf der Fahrt war er zweimal geblitzt worden. Einmal war er über eine rote Ampel gefahren, das andere Mal viel zu schnell. Beide Male hatte er sein Handy am Ohr, weil er versucht hatte, Olga zu erreichen.
Er preschte die enge Straße entlang. Links huschten die senkrechten Felsen vorbei, rechts rauschte der Fluss.
Er dachte an die Premierenfeier, die gleich beginnen würde. Glänzende Gesichter, die funkelnden Damen mit speckigen Rücken und vom schweren Schmuck lang gezogenen Ohrläppchen. Gebügelte Herren, die neben ihren Gattinnen wie Mitglieder eines Männerchors wirkten. Spätestens jetzt würden sie merken, dass er nicht mehr da war.
Als Thorvald im »Luis« ankam, traf er Olga, die mit beiden Ellenbogen auf den Tresen gestützt müde dasaß. Er war erleichtert und wusste selbst nicht mehr, warum er so panisch geworden war. Aber er hatte immer dieses Bild vor Augen. Der todblasse Vincent, die todtraurige Gudrun Himmelreich, Luis‘ Schatten im Seitengang. Und Olga irgendwo im Wald, diesem Hund und einer dunklen Bedrohung ausgeliefert.
Thorvald setzte sich neben sie und griff nach ihren feuchten Haaren.
»Warst du im See?«
Olga nickte. Sie drehte ihren Kopf zu Thorvald und sah ihn von oben bis unten an.
»Hallo, Erik!«
Thorvald fuhr sich durch die Haare. Dann sah er an sich herunter. In der Eile hatte er vergessen, den Jagdrock und die knielangen ledernen Beinkleider auszuziehen.
»Wieso bist du allein? Und warum bist du nicht ans Telefon gegangen?«
»Ines ist bei ihren Kindern, sie kommt später in die Hütte«, sagte Olga. Jetzt fiel ihr ein, dass ihr Telefon immer noch auf Romans Sofa lag.
Thorvald sah sie eine Weile skeptisch an. Olga erwiderte den Blick nur kurz. Ihr Kopf war leer. Und was sollte sie ihm sagen? Wo sollte sie anfangen? Sie konnte jetzt unmöglich über Nyoko reden. Eine Ohrfeige! Das wäre das Einzige gewesen, was ihr in dieser Situation passend erschien. Aber selbst dazu war sie zu müde.
»Was ist in der Oper passiert?«, fragte sie.
»Deinem Großvater ging es nicht gut. Er sah aus wie eine wandelnde Leiche …«
»Das tut er doch schon lange«, unterbrach Olga ihn.
»Und Luis tauchte plötzlich auf. Was hat das zu bedeuten?«
Olga war nicht in der Lage, weiter mit Thorvald zu reden. »Toni?« Sie winkte dem Kellner zu. »Falls Ines kommt, sage ihr bitte, ich bin bei Vincent Ambach.«
»Ich komme mit. Dann kannst du mir erzählen, was ihr gemacht habt«, sagte Thorvald schnell.
Olga sah ihn von Kopf bis Fuß an. »So?«
Thorvald zuckte mit den Schultern, trank mit einem Zug das Bier aus, das Toni ihm gebracht hatte, und stellte das Glas laut auf dem Tresen ab.
»Danke, Toni, alter Junge«, rief er. »Ich habe meine Klamotten in der Hütte. Ich hole sie eben.«
»Thorvald …«
»Was ist?«
Er drehte sich zu Olga und wollte seine Hände an ihre Wangen legen. Er war erleichtert, er war froh, den Abend hinter sich gebracht zu haben. Doch Olga wich zurück.
»Thorvald, ich möchte lieber allein zu meinem Großvater. Ich …«
Thorvald überlegte einen Augenblick. »Okay, dann fahre ich jetzt zu Benno. Das wollte ich sowieso.« Er sah Olga neugierig und ein wenig unsicher an. »Alles in Ordnung?«
Olga nickte nur. Was sollte in Ordnung sein?
»Bleib bei Vincent, bis ich wieder da bin, oder lass dich von irgendjemandem abholen. Versprochen?« An der Tür drehte sich Thorvald noch einmal zu ihr um, dann war er verschwunden.
Das Licht über der Eingangstür brannte und die Räume in der oberen Etage waren hell erleuchtet. Olgas Herz klopfte fast so laut wie der Löwenkopf, den Olga schwer auf die massive Holztür fallen ließ. Vincent hatte den Löwen aus Stahl fertigen lassen. Damals, als er sich noch im Glanze seines Konzerns sonnen konnte. Der Löwe, Sinnbild des Hochmuts. In Stahl erstarrt. Es dauerte eine Weile, bis sich die Tür öffnete. Als Elise Olga erblickte, entspannte sich ihr Gesicht.
»Guten Abend, Elise. Ich möchte gern zu meinem Großvater.«
Olga hatte ein ungutes Gefühl, als sie hinter Elise den langen Flur entlangging. Aus dem Salon hörte sie Gudrun Himmelreichs Stimme.
»Wer ist denn da,
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