Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
großen Eingangshalle. Sie schloss die Augen und drehte sich im Kreise. Sie hatte plötzlich wieder die Gerüche der Praxis in der Nase. Desinfektionsmittel, der süße Geruch nach Hansaplast und Verband. Sie versuchte, eine Erklärung herauszuhören. Sie hörte ihren Vater schimpfen, als er Thorvalds Gips erneuerte. Was hatte er gesagt? Wo war er danach hingegangen? Noch nie in ihrem Leben hatte Olga so viel Stille gehört. So eine Leere gespürt.
Ihr Blick fiel auf das ehemalige Sprechzimmer ihres Vaters. Sie trat ein und steuerte auf die kleine Tür zu, hinter der sich sein Aktenraum befand. Noch nie hatte sie die schweren Schubladen der Metallschränke geöffnet. Das war die Welt ihres Vaters gewesen. Er hatte es nie verboten, es war selbstverständlich, dass man dort nicht herumwühlte.
Der abgerissene Finger des Nachbarn, der mit dem Ehering am Zaun hängengeblieben war. Der verrenkte Nackenwirbel des Bauern, oben am Berg, der im Suff gestürzt war … Alles war archiviert worden.
Olga lächelte. In diesem Wald war so gut wie jeder erpressbar. Ihr Vater hatte das Vertrauen, das die Patienten ihm entgegenbrachten, ernst genommen und sich weitgehendan die Schweigepflicht gehalten. Trotzdem wusste jeder über jeden Bescheid.
»… C, … D., … E., Ebner …, Ehlers …, Einarrson Thorvald!« Endlich hatte sie Thorvalds Krankenakte in der Hand. »Durchfall, schwere Schädelprellung, Impfung aus Angst verweigert, Platzwunde an rechter Augenbraue, Sturz aus Baumhütte nach übermäßigem Alkoholgenuss, schwere Prellung am Schienbein rechts …«, las Olga und lächelte. Das war Tito gewesen. »… Entzündung nach Einschuss Indianerpfeil, Mumps, Windpocken, Fraktur Unterarm rechts! Gips nach Kontrolle erneuert!«
Er hatte es tatsächlich aufgeschrieben: am 30. Juli. Vor dreißig Jahren.
»Der letzte Tag auf dem Floß.« Olga rechnete zurück. Ruben war am 20. Juli gestorben. Was war in diesen zehn Tagen geschehen? Langsam stieg Olga die Treppe wieder hinauf. Zehn Tage. Widerwillig versuchte sie, sich diese schrecklichen Tage in ihr Gedächtnis zurückzurufen. Doch sie waren nicht in Bildern abgespeichert, sondern in Farben und Empfindungen. In Furcht und Unwissenheit. In Ahnungen, die einem Kind in Erinnerung blieben, weil ihm Erklärungen vorenthalten wurden.
»Und? Bist du weitergekommen?«
Ines saß immer noch vor dem Bildschirm. »Also … das Rotkehlchen beginnt immer exakt eine Stunde und zwanzig Minuten vor Sonnenaufgang, die Amsel fünf Minuten später, dann mischt sich der Kuckuck ein. Sie wecken sich gegenseitig.«
Ines zeigte auf ihren Block. »Sonnenaufgang war um halb sechs, dann hat das Rotkehlchen um zehn nach vier angefangen, der Kuckuck demnach … um halb fünf.«
Sie schaute Olga an. »Also, wenn das wirklich Juli war, die nach dir gerufen hat … dann wäre sie zwei Stundennach dem von der Gerichtsmedizin geschätzten Todeszeitpunkt noch am Leben gewesen.«
In Olgas Kopf wirbelte alles durcheinander. »Sie war es … das war Juli.« Sie atmete tief ein. »Damit wären doch Benno und Hanna entlastet. Und Luis …«
»Luis hätte vielleicht doch kein Alibi.« Ines schaltete den Computer aus und stand auf. »Ich denke, das ist etwas, was wir Kirschbaum getrost anvertrauen können!«
Erik war neben der toten Senta zu Boden gesunken. Verloren. Von Anfang an war er verloren. Im Hintergrund versank das Geisterschiff des Holländers mit lautem Getöse. Erik war mit seinem Gesicht genau neben Sentas Kopf gelandet.
»Kannst du mir dein Auto leihen?«
»Wo ist denn deins?«, fragte Senta leise.
Das stürmische Meer schloss sich endgültig über dem Schiff. Am Horizont, eng umschlungen, entschwand der holländische Seemann mit seiner gedoubelten Erlöserin.
»Christian hat meinen Schlüssel einkassiert. Er hatte Angst, dass ich abhaue.«
»Aber ich brauche es morgen zurück.«
Er lag so günstig, dass er ihr einen schönen Kuss geben konnte. »Senta, mein rettender Engel.«
»Bleibst du nicht zur Premierenfeier?«
In diesem Augenblick schloss sich der Vorhang. Thorvald sprang auf. »Wo ist der Schlüssel?«
»In meiner Handtasche!« Thorvald rannte von der Bühne. »Aber lass mir den Hausschlüssel da!«
Auf dem Weg zur Garderobe prallte er mit Christian Reuther zusammen.
»Halt – Stopp! Wohin?«
Thorvald blieb vor ihm stehen. Christian Reuther sahihn froh an. Er war gut gelaunt. Alles war gut gelaufen. Er konnte zufrieden sein.
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