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Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget

Titel: Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Tessendorf
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Wasser.
    Stand dort oben nicht eine hagere Gestalt? Ganz starr. Erhob sich der große Vogel über den Klippen und flog fort? Julis Gedächtnis war nicht im Meer des Vergessens verloren gegangen. Wer erhob sich über dem Felsen?
    »Ein großer Vogel!«
    Olga stand mit offenem Mund da und hob langsam den Kopf in Richtung der Klippen. Ines ging langsam zum Steg, lief bis zu dessen Ende und setzte sich. Dann sah sie zu Olga herüber, die ihr folgte.
    Sie gab Ines das Foto. Thorvald und Benno saßen auf dem Floß und blickten fröhlich in Olgas Kamera. Die Fotografin Olga musste am Ufer des Sees gestanden haben.Um Thorvalds Gipsarm war eine Plastiktüte gewickelt. Im Hintergrund ragte der Felsen wie ein Mahnmal in den Himmel. Erst jetzt erkannte Ines, dass sich ein lachendes Mädchen am Floßrand festhielt. Man konnte nur einen Teil von Julianes Gesicht erkennen.
    »Mit ihrem kleinen Scherz hat sie Thorvald wohl ein lebenslanges Trauma verpasst«, grinste Ines. »Er hat mir ausführlich davon erzählt.«
    »Genau hier, wo wir gerade sitzen, lag unser Floß.« Olga sah sich um. »Irgendwas war am Ufer los, dahinten, bei den Klippen. Benno sagte immer, er hätte oben einen großen Schatten gesehen. Ich hatte den Eindruck, unten wäre ein großes Tier, ein Reh oder so was. Unmittelbar danach fing Thorvald an zu schreien. Dann lachte Juliane. Sie konnte gar nicht mehr aufhören. Sie lachte und Thorvald wurde wütend. Ich sah am Felsen hoch, weil sich da etwas bewegt hatte, etwas Großes, Dunkles.« Olga hielt inne. »Ines, da war was.« Sie zeigte mit geradem Arm auf die Klippen. »Da oben stand jemand. Als Kind habe ich immer wieder davon geträumt.«
    Olga suchte die Fotos ab, konnte aber in der Dämmerung nichts mehr erkennen.
    »Juliane hatte sich heimlich herangeschlichen, weil sie euch überraschen wollte«, vermutete Ines, »und deshalb haben die, die möglicherweise da oben waren, sie auch nicht gesehen.«
    »Aber Juli hat sie gesehen«, sagte Olga ganz leise. »Hat sie doch erzählt. Beim Klassentreffen. Mehrmals sogar. Ich habe das bisher nicht beachtet.«
    »Weißt du noch, an welchem Tag das war?«
    »An dem Tag bekam Thorvalds Gips Wasser ab und Roman musste ihm einen neuen machen, ohne dass seine Eltern was mitbekamen. Er war so aufgeregt.«
    »Thorvald?«
    »Nein, mein Vater. Er war total sauer. Wir hatten ihm zwar nicht gesagt, dass wir auf dem See waren, aber das konnte er sich ja denken. Nie zuvor hatte er mich so angeschrien. Und wir haben uns lange gewundert, warum er wegen des Gipses so ein Theater gemacht hat.«
    »Hat dein Vater die alten Krankenakten noch?«
    »Bestimmt. In seinem Archiv.« Olga stand wieder auf und schaute sich um. Dann öffnete sie den Reißverschluss ihrer Jeans.
    »Brr, das willst du wirklich tun?« Ines schüttelte den Kopf. »Aber, was wundere ich mich. Ihr seid doch alle verrückt hier draußen!«
    »Das ist das Einzige, was ich noch nicht geschafft habe, seit ich hier bin. Ich muss wenigstens einmal in den See steigen, bevor ich wieder abreise.«
    Als Olga sich ausgezogen hatte und splitternackt am Rande des Steges stand, blickte sie noch einmal zu dem mächtigen Felsen, der wie ein Mahnmal vor ihr stand. Wieder hatte sie das Gefühl, dort oben, zwischen den Blättern der Büsche, ein weißes Gesicht zu sehen. Dann schoss sie mit einem fast lautlosen Kopfsprung ins dunkle Wasser. Schnell glitt sie in die Tiefe und ließ sich bis auf den Grund des Sees fallen. Es war noch so viel Licht am Himmel, dass Olga die Umrisse des Steges erkennen konnte. Ihr Floß. Die kleinen Kinderfüße baumelten am Rande des Holzes. Hannas Schwimmbrille zeichnete sich deutlich ab. Olga drehte sich schwerelos im trüben Wasser wie die Seejungfrau, deren Gesang ein Ertrinkender vernahm. Gleich würde der Hecht kommen. Schnell wieder hoch!
    Thorvald hatte den Gesang gehört. Das hatte er immer wieder gesagt. Er hatte ganz viele, unglaublich helleLaute gehört, die wie leuchtende, feine Streifen durchs Wasser geschossen waren. Er wusste nicht, ob er das gehört oder gesehen hatte. Irgendwie beides.
    Und Juliane hatte gelacht. Juliane war ertrunken. Sie hatte denselben Gesang gehört. Olga ging plötzlich die Luft aus. Schnell wie ein Pfeil schoss sie in Richtung der milchigen Scheibe über ihr.
    »Alles in Ordnung?«, rief Ines.
    Olga antwortete nicht. Eine Weile blieb sie schwer atmend am Rand des Steges hängen, dann zog sie sich hoch und platschte wie ein großer Fisch auf das Holz. Mit ihrem

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